Der glückliche Löwe
Das Leben ist dreckig, gemein, stinkt nach dem Schweiß der Vergeblichkeit und vollgepissten S-Bahn-Bögen. Unser Grundgesetz verbietet es, Kindern etwas anderes zu erzählen! Also, Kind:
Elefanten lachen nicht, Giraffen haben keine rote Schleife um den Hals und Krokodile können nicht singen. Und übrigens – Papa ist heute gar nicht besonders lustig, sondern schlicht betrunken!
Marsch, marsch in den Tierpark (der Zoo für Ostberliner), der dich das Gruseln lehrt. Das Weltprinzip heißt nämlich »fressen und gefressen werden«. Das wirst du zwar im Tierpark so direkt auch nicht erleben, aber es reicht schon, wenn du weißt, wie scharfkantig ein »lieber« Löwe stinkt, und dann hoffentlich nie mehr hier hinwillst (Eintritt 18 Euro!).
Die Wildlife-Erfahrung beginnt schon am Kassenhäuschen. Man kann es aber auch Kapitalismus nennen: Die Zwangslage der Eltern (Wie verbringen wir das Wochenende, ohne dass die Teller fliegen?) wird rigoros für Preistreiberei genutzt. Der Eingang ins liebliche Gehege, geschützt durch mannshohe Drehkreuze und Stacheldrahtzäune, als sei es der Ausgang aus einem Hochsicherheitstrakt. Da muss sich der Konsument mit Täuschung, List und Lüge behelfen: »Chellcie, det setzt geleich wat! Rann hier! Ab in Wagen!« Chellcies Mama drückt die Kippe aus und setzt die Fünfjährige in den Kinderwagen – Kinder bis drei kommen kostenlos rein. »Det soll erstma ener nachweisen, dat die nisch Dreie is.«
Bei Sonnenschein eskaliert regelmäßig die Fluchtbewegung aus den 75-qm-Plattenwohnungen. Wenigstens im Tierpark kann man (neidvoll) sehen, wie großzügig man wohnen könnte, im Grünen, am Wässerchen, fern vom Autoverkehr und bei regelmäßiger Fütterung.
AnzeigeDamit die Kinder nicht zu maulen anfangen, sagen die Eltern (oder Großeltern) im Minutentakt: »Guck mal, wie die sich freuen, dass du kommst!« Oder: »Ich glaub, der mag dich!« Sämtliche Zoos haben während der Pandemie die durch nichts zu belegende Behauptung verbreitet, die Tiere seien in Einsamkeit und Trauer verstummt, ja zeigten suizidale Neigungen (Selbstverstümmelung). Eine üble Masche. Das Publikum soll glauben, es hätte am Zoo, dieser »artgerechten« Verwahrungen wilder Wesen, etwas gutzumachen. Nun ist durchweg Comedy im Affenhaus: »Ach guck mal da, der ist aber fröhlich, wie er versucht, seinen Schwanz zu fangen.«
Überhaupt ist der Zoo ein Gebiet des Stegreifhumors à la Mario Barth vor Zufallspublikum. »Diese Äffchen leben monogam!« Und schon kichern in den hinteren Reihen einige. »Also nur ein Sexualpartner … Hoho, da nimm dir mal ein Beispiel, Jürgen!« … »Und die Eltern kümmern sich beide um den Nachwuchs.« Anschwellende Fröhlichkeit überkommt nun fast alle Affengucker: »Wie bei uns, wa?!«
Neben der Witzigkeit ist der Tierpark ein perfekter Ort für Gefahrenübungen: »Nicht anfassen!« »Hier bleibst du, sonst reißt dir die Hyäne den Arm ab!« »Nicht klettern!« »Hose hoch!« oder – humorvoll versöhnlich: »Ins Gebüsch kannste hier nicht pissen, da sitzt der Riesenschnapper, der wartet nur auf deinen Pieselmann!«
Ich erkläre meiner Tochter, dass ich das Vergleichen von Tier und Mensch grundsätzlich ablehne. Einer von beiden wird dabei immer beleidigt, und man muss hinterher sagen, dass der Vergleich angeblich gehinkt hat. Auch das Vermenschlichen der Kreatur im Volksgesang hat für mich seine Grenzen. Provokatorisch setzt das Kind zu singen an: »Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf meinen Fuß …«
»Diese Vögel fliegen nicht«, erkläre ich ihr, »denen wurden die Flügel gebrochen, damit wir sie anschauen können. Das ist quasi, als ob man dir die Beine brechen würde, damit du am Tisch sitzen bleibst, bis du aufgegessen hast.« Trotzdem will das Kind einen »gebrochenen Vogel« für zu Hause haben. »Die gibt es ohne Federn im Kühlregal und ich krieg die super knusprig hin«, verspreche ich ihr und ziehe sie weiter.
In der Herde, die mit uns gestartet ist – übergewichtige Leiber mit »auf lustig« gezwirbelten Gehirnen –, treten langsam die Leittiere hervor: Männer mit Stiernacken, Frauen mit bunten Kurzhaarfrisuren, dicke Kinder, die nach Weichspüler riechen. Wir sind plötzlich Teil eines Rudels, das aber nicht bejagt werden darf. Die Kinderwagen werden von speichelnden Schweinekopfhunden gezogen und nebenbei tauscht man sich über Grundbedürfnisse aus: »Boh, ick hab Bierdurst!« oder: »Sind wir eigentlich schon an den Klos vorbei?« »Nee, das hätte man gerochen.«
Die Löwen bekommen Mittagessen – ein Naturschauspiel der kunstvollen Filetierung! »Wenn de nisch lieb bist, Lilly-Rosalie, macht der dit mit dir. Haha…« Die Lilly-Rosalie schreit, dass sie nun auch voll Bock auf Pommes habe und der Treck produziert schon Verdauungssäfte, denn Wildtiergeruch mischt sich mit dem von Fritteusenfett.
Kurz vor der Massenspeisung sollen wir eigentlich noch Wölfen begegnen. Aber das Gehege »bietet zu viele Versteckmöglichkeiten für die Viecher«, befinden die Besucher, und man »fühlt sich voll verarscht«.
Keine Wölfe, dafür eine lange Schlange aus Menschen vor der Pommesbude. Nun beginnt ein Kampf ums Überleben, so scheint es. Ich kann meiner Tochter in natura zeigen, wie sich der Stärkere behauptet. Einer der Stiernacken ergattert die letzte Bratwurst und stopft sie sich in den Schlund. Die Kinder beginnen zu weinen und Mütter zu fluchen. Wenigstens Pommes müssen her.
Wir haben Butterbrote dabei und können aus sicherer Distanz das Verhalten bei Nahrungsknappheit studieren.
Auf einmal ein Schrei, der die Herde aus der Verdauungsruhe aufschrecken lässt: »Eh, die ficken!« Sieh an, diese harmlosen Dromedare, wer hätte das gedacht?!
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Hier muss ich meinem Kind bei der Einordnung des Geschehens helfen: »Der Hengst zwingt die Stute zu Boden und besteigt sie dann.« Umgekehrt geht es nämlich nicht, schon wegen der Höcker. »Mama, was ist ein Hengst?« Ein netter Herr hilft ungebeten: »Det sind noch echte Kerle. Die nehmen sich, wat se wolln.« Seine Frau aber räumt jeden falschen Eindruck, der über ihre Ehe entstehen könnte, aus: »So wat gibst nur noch bei die Kamele. Wir sind ja zivilisierte Wesen.«
Was hat das Kind gelernt im Tierpark? Es weiß jetzt, worüber Erwachsene lachen und dass es keine rosaroten, fliegenden Einhörner mit Butterblümchen im Maul gibt – sonst hätten wir sie ja gesehen.
Zu Hause haben wir das Kinderbuch »Der glückliche Löwe«. »Das stinkt nicht«, befindet das Kind und ist rundum glücklich.
FELICE VON SENKBEIL
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