Mit Sissi gegen Gangbang

Kinderkram

Es gab einen Vorfall in der 5a. Nein, nicht so was Harmloses wie ein Popelwurf aus der dritten Bankreihe. Was genau geschah, wollte die Mama von Jonas nicht sagen. (Aus Fremdscham? Oder um keinen Verwandten ersten Grades zu belasten?) Jedenfalls soll es doll schlimm gewesen sein, mit Tendenz zu »sehr schlimm«. Sie flüsterte und hielt sich die Hand vor den Mund, trotz Maske.

Ich kenne das schon. Wenn ich den Sohn befrage, ist es immer nur schlimm »für die anderen«, er selbst war so gut wie gar nicht dabei, wenn doch, dann allenfalls mit den Händen in den Taschen. Auch diesmal bekam ich ein Schulterzucken zu sehen und »geht mich nüscht an« zu hören. Damit war das Thema erledigt, wir gingen ins Kino: »Spiderman«.

Es war, wie diese Filme eben sind: laut, bunt und ein bisschen romantisch. Plötzlich zischte der Zehnjährige neben mir: »Jetzt leg die Alte doch endlich flach, Mann!«

War das mein Sohn? Mein kleiner, süßer Bettnässer, der voriges Jahr »Häschen in der Grube« als sein Lieblingslied angegeben hatte? Was meinte er mit »flachlegen«? Was ist das für ein Terminus technicus? Ist das so was wie »den Ball flachhalten« – was ich auch nicht verstehe?

Zeichnung, GUIDO SIEBER

Nach dem Film ließ ich mir die gesamte, dünne Story noch mal erzählen. Ich wartete geduldig auf die Beschreibung der Szene, die er mit der Aufforderung, die Alte flachzulegen, hatte beschleunigen wollen. Ich wollte herausfinden, welche poetische Temperatur (wie wir Schriftstellerinnen sagen) er dieser beimessen würde: aggressiv, frauenverachtend oder angstvoll angeekelt? Oder womöglich – ich scheute mich vor dem Gedanken – »geil«? Danach könnte man überlegen, welche Therapeuten in Frage kommen (theoretisch, denn einen Termin bekommen nur nachweislich Suizidale).

Zehn ist ein wichtiges Alter für die sexuelle Zukunft des Jungen, vorausgesetzt, das Es (also das Kind) hat sich in dieser frühen Phase schon für eins der möglichen Geschlechter entschieden. Bei Mädchen ist da der Zug schon abgefahren, aber Jungs glauben noch, Schwangerschaften könnten beim Schulschwimmen entstehen.

Ich fragte vorsichtig, was der Spiderman mit der jungen Frau denn eigentlich vorhatte? »Na ficken!«, sagte das Kind trocken, als sei ich einfach nur schwer von Begriff. »Die Alte wollte vielleicht nicht, aber wen interessiert das?«

Den Rest der Heimfahrt schwieg ich, aus Angst, er könnte weitersprechen. Scheu sah ich ihn von der Seite an: die Visage eines Frauenschänders?

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Was war mit meinem Sonnenschein passiert? Vor kurzem wollte er noch die Mama heiraten. Vorige Weihnachten hatte er nur einen Wunsch: Lego, wenn aber Lego zu teuer sei, dann solle ihm bitte der Weihnachtsmann seinen Penis abnehmen. Natürlich habe ich immer offen und auskunftsfreudig getan, wenn es um Aufklärungsthemen ging. Ich dachte, das Wesentliche hätte ich ihm schon vermittelt: dass er sich »später mal« nicht mit Schlampen einlassen soll so wie sein Vater. Und dass er, wenn er glaubt, schwul zu werden, es so früh wie möglich offen sagen soll, denn dann kann man vielleicht noch was machen …

Nach oben benanntem »Vorfall« war ich aber doch alarmiert. Was war nach der Sportstunde hinter der Turnhalle passiert bzw. vorgefallen? In der Eltern-5a-WhatsApp-Gruppe, hatte sich ein Nachrichtenstau gebildet. »OMG«, »Whaaat the Fuck?«, »Wer war dabei?« … und ein Link zu einer Beratungsstelle für Opfer sexueller Gewalt.

Ich bekam Angst und rief Jonas’ Mutter an. Die weinte. Die Unschuld ihres Sohnes sei befleckt. Er werde nie erleben, wie zartes Verlangen wächst, wie erotisch Händchenhalten sein kann und dass eine normale Vagina gar nicht hellrosa ist. Alles versaut durch einen Porno.

Gott sei Dank, also keine Gruppenvergewaltigung, nur ein Porno auf dem Handy. »GsD«, schrieb ich an die Gruppe. Und ich beschloss, in die Offensive zu gehen. Mit Medienkompetenz und anatomischem Grundwissen wird mein Sohn dieses verstörende Ereignis einordnen und verstehen können.

»Was ist ein Porno?«, schrieb ich am Sonntagmorgen mit Glasmalstiften an die Fensterscheiben unserer Terrasse. Es war mir wichtig, dem Kind zu zeigen, dass sich hier niemand schämen muss, was er auch immer Verbotenes getan haben mag.

Für die Antworten hatte ich verschiedene Spalten gezeichnet und Farben vorgesehen.

Der Junge kroch an den Frühstückstisch und erkannte den Ernst der Lage. Ich würde nicht lockerlassen, bis dieses Thema besprochen ist. Also lieferte er mir Antworten. Riesenschwänze, rasierte Vaginas (er sagte ein anderes Wort mit F), Gangbang, Strap-on und Handschellen zählte er auf. Ich war so schockiert, dass ich vergaß, die Stiftfarben zu wechseln. Alles in Rot. Ich auch. Und er schlürfte weiter sein Müsli.

»Wie können wir unsere Kinder vor diesem Schmuddelzeug schützen?«, fragte ich in die WhatsApp-Gruppe. Die waren schon weiter. Mit der Schulleitung wurden Taschenkontrollen, Handyverbot und regelmäßige Vernehmungen der Kinder beschlossen. Ein Anwalt hatte seine Bedenken geäußert, Persönlichkeitsrechte und so weiter, eine Mutter fühlte sich an die Stasi erinnert (allerdings hat das MfS nie ein Handyverbot durchgesetzt), aber sonst waren sich alle einig. Die Eltern-5a-WhatsApp-Gruppe wurde in »NoPorno« umbenannt und mit etlichen Elternratgeberseiten verlinkt.

Die Befragungen wurden von einer unerschrockenen Erzieherin (mit Weiterbildung in Sexualkunde) durchgeführt. Da kam alles auf den Tisch, was die Kleinen übers Vögeln wussten. Und endlich wurde der Verbreiter des Filmchens bekannt. Ein Malte aus der Vierten.

Bei uns zu Hause griff meine eigene Strategie: »Schönheit gegen Schmutz«. Ich las dem Kind Rilke vor (»… wer jetzt kein Haus hat«), darauf folgte »Hinter den Wolken muss die Freiheit…« usw., dann »Sissi – die Jugend einer Kaiserin«, und dann zeigte ich ihm, wie Picasso die Schönheit der geschlechtlichen Vereinigung in seiner kubistischen Phase mit zwei Dreiecken dargestellt hat.

»Gleichschenklige«, sagte der Junge (in der Schule üben sie, fächerübergreifend zu denken!).

Der Malte jedoch ist ein derart verrohter Kerl! Der lief auf dem Schulhof rum und erzählte, die mit der Peitsche in dem Porno, den er hinter der Turnhalle gezeigt hatte, sei seine Mutter. »Echt, der Fummel, den sie im Video trägt, hängt bei uns an der Badezimmertür!«

Natürlich wollte ich diese schändlichen Äußerungen dieses Maltes zu Hause nicht unkommentiert lassen. »Also«, begann ich, »die Liebe, aber das wirst du erst verstehen, wenn du groß bist …«

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»Mama!«, unterbrach mich mein Kind, »bitte keine Gedichte!« Und das mit dem Malte solle ich nicht so ernst nehmen. Der sei einfach stolz auf seine Mutter, weil sie fast 1 Million Follower mit ihren Filmen hat. »Ich bin doch auch stolz auf dich!«, sagte er, »nur – dich kann ja die Klasse nicht am Arbeitsplatz besuchen, du schreibst ja immer nur im Bett, was gibt es da schon zu sehen?«

Der Arbeitsplatzbesuch bei Elternteilen ist eine feste Größe in Ethik/Religion (und sehr beliebt, denn hinterher geht die Klasse meistens Eisessen), und Malte wollte einfach schon mal einen kleinen Vorgeschmack liefern. Denn Maltes Mama hat den nächsten Termin schon fest zugesagt: Setbesuch beim Filmdreh »Milfs like to fuck«.

FELICE VON SENKBEIL

Auslese