Weihnachten im Park
Der Weihnachtsmann sieht mich aus glühenden Augen an, während mich sein großer, mit feuchten Erdklumpen verdreckter Stiefel auf Brusthöhe an die Mauer presst.
»Ganz schön gelenkig!«, keuche ich anerkennend, in der Hoffnung, dass auch ein böser Mann in einer finsteren Adventsnacht Schmeicheleien gegenüber zugänglich ist. »Schnauze!«, schnauzt der Weihnachtsmann.
Jetzt biegt sein Rentier um die Ecke. Seine Augen funkeln mindestens genauso bösartig wie die seines Chefs, es kommt ganz dicht, bis seine Nüstern mein Gesicht berühren, holt tief Luft und stößt seinen Atem direkt in meine Nasenlöcher hinein. Mir wird augenblicklich schwarz vor Augen. »Gut gemacht, Kumpel!«, höre ich den Weihnachtsmann loben, »bedien dich, er gehört dir!«
Erfreutes Röhren. »Wie willst du ihn haben? Gleich am Stück für den großen Haps oder erstmal zum Probieren ein Schülterchen?« Gieriges Schmatzen.
»Verstehe. Aber warte, ich will ihn dir wenigstens etwas schöner drapieren. Soll’s anschließend nicht wieder heißen, der Weihnachtsmann sei ein grobschlächtiger Kerl, und ohnehin nur eine clever lancierte Werbefigur!«
Ich werde hochgehoben – der Weihnachtsmann ist ein muskelbepackter Hüne – und nahezu zärtlich auf eine der überall rumstehenden Picknickbänke gelegt. Klamotten vom Leib, Beine ausgestreckt, Arme nach innen gedreht und links und rechts locker vom Tisch pendeln lassen. Haare zum Scheitel hinter die Ohren gestrichen. Kristallglöckchen in die Ohrmuscheln eingehängt.
RUPF! Ein entsetzliches Brennen, gefolgt von einem eisigen Luftzug bestürmt mein Kinn. RUPF! Es wird noch kälter.
»Bäh!«, blökt das Rentier dicht über mir, »Chanel Allure!«, und spuckt und spuckt und will sich gar nicht mehr einkriegen.
»Oh, sorry, das tut mir leid! Da hab ich nicht drauf geachtet! Hier, trink einen Schluck Wasser und noch einen, und ich glaub, es ist auch noch etwas Bommerlunder da!« – Gelegenheit für mich, im allgemeinen Rumgezappel vom Tisch zu gleiten und mich rücklings ins Grün zu schlagen. Ich krieche auf allen Vieren, Buschwerk, Dornen, Kot, Modder, kein Hindernis, nur weg von hier, immer tiefer ins Dickicht hinein, dahin, wo die Wildschweine ihren menschenscheuen Schlaf abhalten, und auch die Karnickel, habe ich irgendwo gelesen, egal, ich gucke in zwei kleine, zum Schlitz verengte Augen, die von zwei aufwärts strebenden Reißern flankiert sind, freundlich sieht das nicht grad aus, aber ich träume ja sowieso, sowas kann man nur träumen, wie heißen die Männchen von denen nochmal? Bachen. Nein, das sind die Weibchen. Eber … Eiber, nein Keiler. Keiler!
Ich werfe mich zur Seite, Brombeerranken unter den Fußsohlen, Brombeerdornen unter den Handballen, Blutgeschmack unter der Zunge, dicht hinter mir das fauchende Untier, schon meine ich, sein Geraff in meinem Rücken zu spüren, und in letzter Not einen Baumstamm hoch – wie, ist mir selbst schleierhaft.
»Was machen Sie denn da!?« Greller Strahl, dröhnende Stimme. Ein Tirolerhütchen mit einem fleischigen Kopf darunter, sehr nah, quasi vor meinem baumelnden Geschlecht.
Anzeige»Kommen Sie sofort da runter, sonst mach ich die Hedwig los!« Falls das seine Töle sein soll, so schnappt sie bereits nach meinen Füßen. Oder ist es das Wildschwein oder das Rentier oder eine Stachelwinde?
»Dass Sie sich nicht schämen! Um diese Uhrzeit! Hedwig, nein! Aus!«
Ein Ruck, ähnlich wie vorhin, nur dass es diesmal nicht kalt, sondern heiß nachpulst. Wäre schön, wenn ich dann jetzt mal aufwachen könnte und nicht auch noch beunruhigend realistischer Zeuge meiner Errettung durch zwei kichernde Jungmänner der Feuerwehr werden müsste, die mich vom Baum runterschälen, mir eine von diesen goldenen Decken überwerfen und sich an einer Klappliege im hinteren Teil ihres Einsatzfahrzeuges zu schaffen machen.
Meine Mutter hatte luzide Träume, meine Großmutter auch, und ich bin, wie man mir glaubhaft versicherte, als Kind schlafgewandelt. Einmal kam ich kopfüber in der Kompostkiste im Garten zu mir, wo ich nach samtüberzogenen Regenwürmern suchte, die mir ein sprechender Rabe in Aussicht gestellt hatte.
Man trug mich ins Haus und legte mich wieder hin. Ähnlich wie jetzt. Nur dass mir damals keine Zehen fehlten.
VERA HENKEL