Fremdschlafen

Freunde sind wichtig. Das merkt man spätesten beim ersten Umzug und wenn man es zu einem Auto gebracht hat, zweimal im Jahr beim Reifenwechsel. In jeder Lebensphase bringen sie Vorteile. Ganz früh im Leben lassen sie sich klaglos mit Sand bewerfen, dann mit Schulstullen und später teilen sie Klamotten, Spickzettel, WGs und Liebhaber mit einem.

Vorbildlich in Sachen Freundschaft geht es im Tierreich zu. Das sieht man auf Tiktok: Katze reitet auf Schildkröte, Hund schläft im Alligatormaul. Natürlich mögen manche Tiere auch Menschen, obwohl die kompliziert sind. Über Hunde heißt es immer, sie seien »der treue Freund des Menschen«, was man von Tauben nicht sagen kann, obwohl doch beide die Stadt zuscheißen. Und natürlich wird in der Weltpolitik viel gekumpelt. Die Freundschaft zwischen Gerd und Wladimir ist unerschütterlich. Zwischen Biden und Netanyahu passt kein Blatt Papier – sagt man doch so. Von Kampfschiffen will man da gar nicht erst anfangen. »Freundschaftliche Beziehungen« klingt immer gut, zu gut.

Masztalerz & Blok

Ich fühle mich bedroht, nicht nur von der Weltlage, auch von den ausufernden Freundschaftsbünden meiner Kinder. Und zwar in meinem allerintimsten Intimbereich, der Wohnung. Ständig muss ich Geburtstagsgeschenke kaufen, mir Namen merken (aber Paul oder Julius passt meistens) und nett lächeln, wenn sie meinen Kühlschrank plündern. Schließlich sollen die Wänster zu Hause berichten, was für eine nette, ja coole Mutti ich bin.

Die Freundschaften sind so dick, dass es kaum möglich ist, die eigenen Kinder solo zu Gesicht zu bekommen. Ständig klebt ein Kumpel dran und manchmal gehen die auch nach dem Sandmännchen nicht nach Hause. »Juhu, Paul schläft heute bei uns! Und morgen machst du Eierkuchen!« Wenn ich frage, warum dieser Paul denn unsere Neben- und Lebensmittelkosten belasten soll und ob seine Eltern im Krankenhaus, in Abschiebehaft oder ohne ihn verreist sind, bekomme ich nur Schulterzucken zur Antwort. »Ist doch egal, der schläft heute hier und seine Mutter hat nichts dagegen.« Komisch, diese Mütter haben nie was dagegen! Ich weiß nicht, wann diese Unsitte – das Freundschaftschlafen als Zeichen höchster Vertrautheit – angefangen hat. Vielleicht mit der Wiedervereinigung – »jetzt wächst zusammen, was zusammengehört«.

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Aber ja, warum eigentlich nicht? Ich kenne diese Mutter nicht. Vielleicht hat sie ihr Kind beauftragt, mein Wahlverhalten zu erkunden und steht eines Tages vor der Tür: »Guten Tag, ich komme von der FDP, mein Sohn hat doch schon bei Ihnen geschlafen …«

Auch sie weiß nicht, was ich für eine Person bin. Vielleicht weihe ich ihren Sohn in dieser Nacht in die Geheimisse des Derivatenhandels ein oder erwärme ihn für das kommunistische Manifest. Ich könnte ihn auch mit Billigfleisch, Haltungsstufe 1, vergiften oder mit Kuhmilch seine Darmflora nachhaltig versauen.

Es könnte auch sein, dass bei uns gar kein Bett frei ist, weil wir Flüchtlinge aufgenommen haben oder renovieren und ihr Kind in der Badewanne schlafen muss. Oder dass bei uns die Bettwanzen eine Größe erreichen, die nicht mehr sozialverträglich ist.

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Und nicht alle Kinder sind nett oder hübsch. Natürlich darf dieser Paul mit dem unerträglichen Geruch nach Weichspüler und Energiedrink bei uns schlafen, sage ich und frage nach der Nummer seiner Eltern – für den Notfall, falls er sich im Schlaf an seiner Zunge verschluckt. Da beginnt der Schlafgast schon zu plappern: Mama ist depressiv, Papa abgehauen, die Einkommensverhältnisse zwingen ihn, billige Schuhe zu tragen. Es kracht manchmal zu Hause, sagt er, und Alkohol ist auch im Spiel. Jetzt kommt also bei mir zur Ablehnung auch noch Mitleid hinzu und ich frage mich, ob das Freundschaftschlafen nicht als Moraltest für die Alten erfunden wurde.

Mein Sohn zieht seine Gästematte unterm Bett vor und freut sich auf eine Kissenschlacht. Ich werde die ganze Nacht wachbleiben – falls es zu Komplikationen kommt (Paul fällt womöglich, weil er schlaftrunken die Toilette sucht, aus dem Fenster).

Seine Mutter hat’s gut. Die genießt sicher den freien Abend in ihrer Stammkneipe und findet vielleicht einen neuen Versorger.

Womöglich ist das der eigentliche Grund für diese Übernachtungspartys. Babysitter sind teuer und Großeltern gestorben oder weit weg in der schwäbischen Heimat. Heutzutage lässt ja niemand mehr ein Kind allein zu Hause. In meiner Jugend war das anders. Meine Alten waren nie zu Hause, sondern (angeblich) für die Weltrevolution unterwegs. Als ich in einem gewissen Alter behauptete, mich allein zu fürchten und mir die Freundschaftsbeischlaferlaubnis mit einem meiner Kumpels erbat, wurde mir wortlos eine Taschenlampe aufs Kopfkissen gelegt.

Ich selbst durfte auch nie woanders schlafen. Die Eltern der jeweiligen Freundin oder des Freundes fürchteten wohl, sie müssten Ostfernsehen gucken, wenn ein fremdes Kind in der Wohnung ist. Oder ich würde mitkriegen, dass Onkel Richard über Ungarn »wegmachen« will. Die Freundschaftsschläfer aufzunehmen, ist eine Herausforderung für mich, zumal wir die Klotür gern offen lassen und meine Unterwäsche am besten an den Lampenschirmen trocknet. Das kann man fremden Elfjährigen nicht zumuten. Bevor das fremde Kind kommt, überziehe ich frisch und entferne herumfliegende Schamhaare aus dem Badezimmer. Ich kaufe so üppig ein, als seien wir eine – wenn auch vom sozialen Abstieg bedrohte – normale Mittelstandsfamilie. Sündhaft teurer »Knabberspaß« wird herangeschafft. Und danach kostet es mich Mühe, meinen Kindern dieses Zeug mit der »Ist nicht gesund«-Masche wieder auszureden. Gegenübernachtungsbesuche machen mich noch nervöser. Was willst du bei den Leuten, frage ich dann. Ist es nicht schön bei uns Zuhause? Koche ich nicht gut? Bin ich nicht eine aufopferungsvolle, liebevolle Mama?

Doch meine Kinder lassen sich diesen »Spaß« nicht ausreden. Also mache ich auch das mit. Saubere Unterwäsche packe ich ein und das Kuscheltier. »Wenn es dir bei denen nicht gefällt – ich hole dich ab, auch mitten in der Nacht«, sage ich dann und verdrücke mir die Tränen. Hoffentlich geht das gut. Wer weiß, was das für Leute sind? Essen die auf dem Boden? Wie stehen die zum Palästinakonflikt? Und zur Ukraine? Kaufen die bei Kik? Wird dort Zucker gefüttert oder geraucht?

Spätestens ab Mitternacht ist mir das dann auch egal und ich freue mich aufs Ausschlafen.

FELICE VON SENKBEIL

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