Ein Leben ohne Sieger

Meine Kinder sind die Besten. In irgendetwas jedenfalls. In den Disziplinen Langekaugummikauen, Neinsagen, im Süßgucken oder in Mathe.

Fähigkeiten eins bis drei sind schwer zu beweisen, nerven aber trotzdem. Ein uneinholbares Mathetalent müsste sich in voller Pracht auf dem Zeugnis widerspiegeln. Wozu sind denn Schulnoten sonst da? Doch dafür, dass man die Zukunftsperspektiven des Wunderkindes realistisch abschätzen kann: Wird es das Kinderzimmer bewohnen, bis es Ende zwanzig ist, seine Socken überall verstreuen und manchmal vergessen, die Klospülung zu betätigen? Oder verdient es schon mit achtzehn ein Vermögen auf dem Bau und kann drei Liter Bier vertragen?

MARIO LARS

Auch für die Kinder selber sind Schulnoten eine feine Sache (jedenfalls für meine). Für eine Eins gibt’s 50 Euro von der Oma, für eine Note höher je zehn Euro weniger, so dass man sogar noch mit einer Fünf was verdienen kann. Oma nennt das »das sozialistische Prinzip der materiellen Interessiertheit« (angeblich ist es jedem Profitstreben überlegen).

Jetzt aber sind die Schulnoten in Gefahr, abgeschafft zu werden, so wie wir schon »Neger«, »Schwuchtel« und »Zigeunersteak« abgeschafft haben. Auf wundersame Weise hat nämlich Die Linke (infolge einer Coronaerkrankung seit geraumer Zeit in die gefürchtete Schlafkrankheit gefallen) eine wache Minute gehabt. Die Linke wünscht sich ein Kinderleben ohne Schulnoten und Hausaufgaben, und im Sportunterricht soll künftig weder die Zeit gestoppt noch ein Sieger ermittelt werden.

Dann hat sich Die Linke wieder hingelegt. Mich aber plagen seitdem schlaflose Nächte.

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Denn in meiner Familie sind Schulnoten so wichtig wie bei anderen Nutella zum Frühstück und Fettaugen auf der Kartoffelsuppe.

Natürlich, Schulnoten sind ein Unterdrückungsinstrument. Sie wurden erfunden, um Kinder zu demütigen, ihnen ihre Grenzen zu zeigen und gewissermaßen die Maßeinheit für die Schläge zu liefern, die es zu Hause vom cholerischen Vater gab. Außerdem fördern sie sozial gestörte Alpha-Typen, indem sie im Mittelhirn des Kindes den Nucleus accumbens und den präfrontalen Kortex aktivieren. Bestnoten lösen Botenstoffe an das Glückszentrum aus, wie das sonst nur eine Strangulierungs-Challenge auf TikTok erreicht. Und meine Kinder sind ganz scharf auf diese Endorphine.

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Schlimm ist es natürlich, wenn mal ein Misserfolg dazwischenkommt, also der präfrontale Dingsbums plötzlich Reißnägel ins Kleinhirn spült. Dann greifen die Kids zum Joint oder werden gleich depressiv.

Aber was würde ein Schülerdasein ohne Wettbewerb und Bewertung für meine Kinder bedeuten? Das blanke Elend! Dem Jüngeren würden die Schulrekordtitel im Weitsprung, Ausdauerlauf und Popelschnipsen aberkannt. Der Ältere wäre nicht mehr der, neben dem die Mädchen in Physik sitzen wollen. Die Knaben hätten weniger Taschengeld und müssten sich auf andere Weise behaupten. Wahrscheinlich durch Kekswichsen und Handtaschenklauen – wenn sie überhaupt noch Aktivität zeigen würden: Die Neigung, einfach im Bett zu bleiben, ist in beiden Charakteren angelegt.

Und auch ich hätte es schwerer im Leben. Was soll ich erzählen, wenn man mich nach meinen Kindern fragt? Dass sie die Hübschesten sind? Das ist sehr subjektiv und wäre glatt gelogen.

Ohne Schulnoten müssten Lehrer ständig heuchlerische Leistungsbeschreibungen erfinden: »Das Lesen klappt fast schon ganz sehr gut, aber das macht nichts, du malst ja schöne Bilder.« Viel Spaß mit dem wertfreien Abitur in der Welt da draußen!

Ich beruhige mich wieder mit einer Hand voll Vivinox und denke, dass ausgerechnet dieses Thema nun Die Linke beschäftigt – wie banal! Doch dann erkenne ich (schon leicht im Tablettenrausch): Die Schulnote ist die Wurzel allen Übels, das Machtinstrument des ausbeuterischen Kapitalismus, die angeblich objektive Grundlage für Zurücksetzung, Diskriminierung und Ungleichheit.

Flüchtlingskinder, Unmusikalische, Dicke und Plattfüßler – alle hätten sie ohne die Benotungen die gleichen Chancen im Leben. Jeder könnte aus dem Stand jeden Chefsessel erklimmen. Und das Schönste: Wer den Erfolg nicht kennt, vermisst ihn nicht. Keine Konkurrenz, kein Neid und keine SUV! Die notenlose wäre eine friedliche Welt. Für diese Idee kriegt Die Linke eine 1 mit *!

Meine Söhne verabschieden sich zum Fußballturnier. Ich höre sie noch auf der Treppe grölen: »Diesen Losern, diesen Behindis, werden wir heute ordentlich die Fresse polieren!«, sagt der eine. »Diese Versager kommen heute ohne Beine nach Hause«, frohlockt der andere. Ich lege mich noch mal ins Bett und freue mich schon auf die Siegerlaune, mit der ich geweckt werde.

FELICE VON SENKBEIL

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