Pollo für Olaf

Ich erkannte ihn sofort, aus zwanzig Meter Entfernung, obwohl ich, wie stets, wenn ich esse, die Lesebrille aufhatte! Er kam, die Arme eng am Körper, in einem dunkelgrünen Poloshirt mit aufgenähter Tasche die Reinickendorfer im Wedding hoch, dort, wo sie von den Hochhäusern der Pharmakonzerne umstellt ist. Ich erkannte ihn am Gang: Er setzt die Füße pinguinesk nach außen, wie das viele Hamburger Jungs machen – eine erworbene genetische Mutation über viele Generationen von Seefahrern und Fischern, die sich auf schwankenden Planken halten müssen.

Er war allein, ohne Personenschutz – raffiniert! Mit den Jungs im Schlepptau wäre er sofort erkannt worden, kommt er allein, interessiert sich kein Aas für ihn, schon gar nicht auf muslimischem Gebiet – ohne Bodyguards ist er am sichersten (seine Chefin könnte sich das nicht leisten, wenn sie bei »Ullrich« einkauft).

Es war heiß, ich saß als einziger unter der Markise am langen Holztisch vor Lokman Hekims Schnellrestaurant und löffelte die köstliche Linsensuppe. Wenn er sich zu mir setzt, nahm ich mir vor, frage ich ihn nach seinem Steuer – konzept, und zwar, indem ich in meiner Frage geschickt eine Kritik an seinem Umgang mit der Umweltministerin – einer Svenja Sowieso – verstecke, der er brutal das Budget kürzen will.

Derweil stand er wie ein Musterschüler vor Hekims Tresen und ließ die Arme hängen, bis ihm Hekim bedeutete, dass er sich raus setzen solle. Er war praktisch gezwungen, sich zu mir zu gesellen, alles andere hätte ihn hier als Phobiker, Rassisten, Geheimdienstler (der BND ist 500 Meter die Straße runter) oder Pädophilen ausgewiesen.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte ich – und da wusste er, dass ich ihn erkannt hatte.

»Essen«, sagte er und blinzelte vergnügt, wie einer, dem ein Witz gelungen ist. »Und Sie?« Da wusste ich, dass auch er mich erkannt hatte.

»Essen«, sagte ich. Ja, er kann richtig lachen! In den 70er-Jahren war er bei der sozialdemokratischen Jugend gefürchtet als der Stalinist mit dem Wuschelkopf, der nie lächelte, ständig Dossiers über ideologisch schwankende Genossen anlegte und zu ausschweifenden theoretischen Belehrungen anhob. Einmal besuchte er mit einer Delegation den Genossen Honecker, der ihn sofort ins Herz schloss und ihm zuriet, Wissenschaftlichen Kommunismus in Moskau zu studieren. Jetzt ist er fast kahl, kann lachen und ist im Zivilleben Teilhaber einer stinkreichen Anwaltskanzlei.

Exakt zwei Journalistengesichter hat er sich in seiner langen Karriere gemerkt: Erstens das Gesicht jenes Kollegen, der die Marke »Scholzomat« erfunden hat und dafür den Grimme-Preis, die Hajo-Friedrichs-Goldmedaille und die Hans-Rosenthal-Plakette bekam. Und meins – ich nannte ihn dereinst die »Schwarze Null«: Ob er als eine solche in die Geschichte der deutschen Finanzminister eingehen wolle, hatte ich ihn in der hochoffiziellen Bundespressekonferenz gefragt. Seitdem bin ich dort nicht mehr zugelassen.

Hekim knallte schwungvoll die Pollo aufs Holz. Der, die oder das Pollo – da kann sich Hekim nicht festlegen – ist ein mit sehr viel Sahne durchweichtes Nudelgericht, das Separatorenfleisch vom Hühnchen enthält. Es wird heiß in einem riesigen tiefen Teller serviert und mit Hilfe eines Löffels verspeist. Biodeutsche bestellen es ei – gentlich nur, wenn sie sich genötigt sehen, Sympathie für muslimische Einwanderer auszudrücken. Das hat mein Mitesser eigentlich nicht nötig, denn er streitet – was Hekim und das Muselmanenvolk, das hier mit riesigen Karossen fast in Hekims Schaufenster parkt, natürlich wissen – für »eine grundlegend neue Rahmenordnung für Arbeitskräftezuwanderung«, und zwar – was viele Flüchtlinge, die einen geistig anspruchsvollen Berufsabschluss als Frisör oder Bartschneider aufweisen können, freuen dürfte – bei »intelligenten Grenzen«!

Viel wurde über ihn geschrieben – er war »Der Bluthund von Altona«, »Die trübe Tasse im Kanzleramt«, »Das Schlafmonster in der Wilhelmstraße«. Nur der Satz aus meiner Feder »Der Rollstuhl hätte besser zu Scholz als zu Schäuble gepasst«, ist wegen Feigheit des Chefredakteurs nie gedruckt worden.

Also, lesen kann man viel über ihn. Aber so richtig kennen lernt man einen Menschen erst, wenn er einem gegenüber sitzt und mit der Pollo kämpft.

Interessant, wie er den Löffel hält! Bevor er ihn in seinen kleinen, verkniffenen Mund einführt, schwingt er ihn zweimal nach unten durch, damit Überflüssiges abtropft und ihm nicht etwa die Pollo das Poloshirt verdirbt: Ein Mann des rechten Maßes, wie geschaffen für die Neuordnung der europäischen Finanzen!

Diese subtile, fast intime Beobachtung mag ihm bereits als »zu privat« erscheinen – Homestorys scheut er jedenfalls. Schade, sie würden journalistisch viel hergeben. Denn er lebt in einer der seltenen – und noch seltener glücklichen – Politikerehen, mit einer gewissen Britta, die schon oft da und dort Ministerin war und demnächst Bundeskanzlerin werden wird, wenn es nicht die Nahles oder die Wagenknecht wird oder die Merkel bleibt. Nur einmal hat er erstaunlich offen über die Sexpraktiken gesprochen, die seiner Ehe das gewisse Etwas geben. Eigentlich ist es nur eine: Zwischen ihm und seiner Britta werde »alles vorher genau abgesprochen« und dann erfolge »alles auf Augenhöhe«. Offensichtlich sind mit diesem Agreement in der Zweierbeziehung viele glückliche Erfahrungen verbun – den und das Credo eines ganzes Politikerlebens konzentriert: »Wenn wir alles richtig machen, wird es funktionieren.«

Die Pollo muss rasch und heiß vertilgt werden, sonst ändert sie auf ungute Weise ihre Konsis – tenz – sie geliert und sieht dann nicht mehr gut aus. Das wäre eine gute Gelegenheit gewesen, mein Gegenüber nach der zwangsweisen Verabreichung von Brechmitteln bei Drogendealern zu fragen, die er 2001 als Hamburger Bürgermeister anordnete (und sich somit auch als Ordnungspolitiker in einer Koalition mit der CDU empfahl). Aber da war er schon auf des Tellers Talsohle angekommen. Aufessen aus Pflichtgefühl. Wie es ihm gemundet habe, wollte ich mit unstillbarer journalistischer Neugier wissen: Die Pollo sei »ein lebendiger Beweis, dass die meisten Zuwanderer eine andere Richtung einschlagen« gewesen, formulierte er brillant das Lob an Hekim, der es servil entgegennahm. Sodann knüllte er die Serviette in den Teller, nahm ihn in beide Hände, federte hoch wie einer, der morgens Kniebeugen macht, stieg rückwärts über die Bank, blinzelte mir mit hanseatischer Schalkhaftigkeit zu und sagte: »Nichts für ungut.«

»Sie müssen los?«, rief ich ihm nach, während er brav das Geschirr zu Hekim auf den Tresen stellte. »Ja, ich möchte nicht warten, bis sich unser Schicksal entschieden hat.« (Der einzige zitierwürdige Satz aus seinem Standardwerk »Hoffnungsland«*, das er eigenhändig am Küchentisch geschrieben hat, nächtens, während seine Britta von höherer Verwendung träumte.)

»Weißt du überhaupt, wer das war?«, fragte ich Hekim.

»Der erste weiße Mann, der den, die, das Pollo je ganz aufgegessen hat«, antwortete der.

»Nein«, sagte ich, »das heißt: ja! Aber das ist auch unser Vizekanzler.«

»Deiner vielleicht«, konterte Hekim, »meiner nicht.«


Atze Svoboda

Aus dem EULENSPIEGEL 09/2018

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