Einmal Top 30 … det wär´s!

FERNSEHEN

Warum tue ich mir das hier eigentlich noch an? Wenn diese Frage hochkommt wie kalter Kaffee, dann ist in der Regel ein Arzt oder Alkohol angesagt. Aber bevor es suizidal wird, sollte man klären, ob die Malaise am Leben generell oder an dem Leben hier in dieser lauten, dreckigen, brutalen, gesundheitsruinierenden, verlogenen, ungerechten, dysfunktionalen, gefährlichen und obendrauf scheißteuren Stadt liegen könnte.

Kann man letzteres bejahen, gibt es wieder zwei Möglichkeiten – raus hier (aber wohin, wenn es nicht AfD-Land sein soll) oder RBB gucken und zwar dauerhaft und mindestens wöchentlich. Das Format heißt »Die 30 schönsten …« und lässt die Hauptstadt wieder strahlen. Jedenfalls in dem Rahmen, den das Archiv hergibt

DENIS METZ

»Die 30 schönsten Berliner Spaziergänge«, »Die 30 schönsten Hinterhöfe«, »Die 30 schönsten U-Bahnhöfe«. »Die schönsten Orte an der Ringbahn», »Die 30 vollgepullertsten U-Bahnunterführungen« … Über eine Stunde lang widmet sich das Programm liebevoll einem Berliner Detail, dessen Schönheit man bisher übersehen hat.

»Die 30 schönsten …« hat eine enorme Suchtwirkung. Man kann einfach nicht wegschalten, schließlich könnte ja der private Fahrradständer als nächstes gezeigt werden. Der Redakteur, der das erfunden hat, müsste mit den berüch -tigten RBB-Boni überschüttet werden! Es ist eine Mischung aus Scham und Stolz, ein leichter Schauer von Patriotismus und Nostalgie, deren man sich nicht erwehren kann. »Dit is meene Stadt«, denkt der Berliner. Und der Zugezogene sagt: »Cool hier, das ist die Wuchermiete wert.«

Warum 30? 20 wäre zu kurz für das Sendeschema nach der »Tagesschau«, und 40 hält keiner aus. Die 30 ist magisch. Bis 30 ist man jung, ab 30 verfällt man. Wer in der Uckermark im Mittelalter nicht 30 Kühe hatte, war kein richtiger Bauer, und wer noch 30 Zähne hat, ist noch kein Gebissträger, und in 30er-Zonen wird man am häufigsten geblitzt.

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Erst die deutsche Wiedervereinigung hat das Format möglich gemacht. Alles, was im SFB und DDR-Fernsehen lief, kann man nun verwursten. Mit einer Idee für einen Suchbegriff – beschrankte Bahnübergänge, Eisladen, Tierfriseur – können ein bis zwei eifrige Praktikantinnen leicht eine Stunde Sendezeit zusammenschustern. Wenn dann noch junge und alte Fernsehgesichter ihren Senf dazugeben, kann es doch nur schön werden.

Besonders beliebt ist Ulli Zelle, unser Ur-Berliner. Der Stadtschreiber, die Enzyklopädie, das kollektive Gedächtnis der Stadt. Jedenfalls für den Westteil. (Im Osten war es Herbert Köfer, der nun als Hologramm auftaucht.) Von der Luftbrücke über den Kennedy-Besuch, die Reichstagsverpackung und den Goldmünzenraub – Ulli Zelle war immer dabei. Oder kennt jemanden, der dabei war. Zu jeder Ecke hat er eine Anekdote auf Lager. »Ach, da war die Marlene Dietrich mal pinkeln« und »Hier hat der Harald Juhnke mir einen ausgegeben.«

Jungschauspieler dürfen in diesem Format voller Ehrfurcht davon schwärmen, was sie verpasst haben. Sie müssen zugeben, dass ihre Jugend nur langweilig ist, ohne Inspiration. Wie aufregend es wohl 1933 am Ku’damm oder im Prinzenbad war? Oder in den Fünfzigern, als es noch nicht nach Kotze stank, man seine Handtasche noch über dem Pulli trug, statt darunter. Als noch keine Steine flogen, wenn der Krankenwagen kam. Niedliche Kindheitsgeschichten wie »Da habe ich meinen ersten Döner gegessen.« oder »Das war toll, da rauschte die U-Bahn direkt durch mein Kinderzimmer« runden das Format zu einem Feel-good-Erlebnis ab.

Komischerweise sagt nie jemand, dass es auch damals laut und schmutzig war, dass Hundekacke selbstverständlich liegenblieb, dass Ratten im Hausflur warteten und über der Stadt dicker Kohlerauch lag. Allerdings, Berlin ist nicht gleich Berlin. Es kommt auf die Auswahl an. Die vorderen Plätze der schönsten Orte belegen meistens die Wohlfühloasen der Gutverdienenden. Der Kollwitzplatz im Osten, das Engelbecken im Westen, einfach harmonisch. Da sprüht der Sprechertext vor Begeisterung: »Orte zum Abschalten, Seele baumeln lassen und schlemmen …« gibt es stets zwischen Platz 17 und 4.

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Es kommen viele Berliner Schnauzen in diesem Format zu Wort: Jaecki Schwarz (unvergleichlich), dann Winfried Glatzeder, die Thalbach-Sippe, der Wowereit, Fräulein Stoeckel, Marion Kracht, Frank Zander und etliche, deren Namen niemand kennt. Berlin hat offenbar die dichteste Dichte an Originalen – »Persönlichkeiten der Stadtgesellschaft«, wie es heute heißt.

Besonders beindruckend ist, wie sich in »Die schönsten 30 …« Katzenmuseum, bester Bäcker Berlins, Bücherverbrennung auf dem Bebelplatz, Judendeportation und Pastrami-Sandwich zusammenbringen lassen. Lauter Kuriositäten! Dazwischen tingelt die Gute-Laune-Musik und alle schlechten Gedanken verfliegen.

Nur sehr selten laufen Ausländer durchs Bild. Wenn der RBB die schönsten Ausflugsziele, Brücken, Liegewiesen, Kleingartenkolonien und Plätze besucht, liegen da nur Weißbrote rum. Auch bei den Straßeninterviews kommen nie Türken, Araber, Ukrainer, Syrer oder Polen zu Wort. Das ist ganz normal. Würde TV-Istanbul in »Die 30 schönsten …« einen Berliner fragen?

Es bleibt also dabei: Es ist ein großartiges Format. Und irgendwann ist vielleicht auch meine Drecksecke dabei.

FELICE VON SENKBEIL

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