Alles gut

Die Wissenschaft hat festgestellt: Deutschland befindet sich derzeit in einem Zustand akuter Erschöpfung. EULENSPIEGEL sprach darüber mit dem Krisen- und Motivationsforscher Dr. Hans Schlapp.

Dr. Schlapp, ist die moderne Erschöpfung ein Massenphänomen, in dem sich ein kollektives Krisengefühl manifestiert? Und kann man tatsächlich, wie jetzt häufiger zu lesen war, von einer Erschöpfungsepidemie sprechen?

Klimawandel, Corona, Inflation, Ukrainekrieg, Totalüberwachung, Fachkräftemangel, Überbevölkerung, Klimawandel, Wohnungsmangel, bürokratische Dämmvorschriften, sinkende Renten, Hamas-Terror und Nahostkonflikt, Klimawandel, Ende September jetzt auch noch die amtliche Scheidung von Lilly und Boris Becker – all das zerrt an den Nerven der Menschen, sie kommen nicht mehr zur Ruhe. 2021 zählten die Krankenkassen 126 Millionen Krankheitstage aufgrund psychischer Leiden. In Umfragen bezeichnet sich eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung derzeit als erschöpft. In der Altersgruppe zwischen 30 und 40 Jahren sind es sogar über 70 Prozent. Besonders alarmierend: In einer Studie konnte ich nachweisen, dass die allgemeine Überforderung in direkter Korrelation zur Verwendung der Floskel »alles gut« steht.

Um Gottes willen! So schlimm? Aber sind die Erschöpften nicht einfach nur weinerliche Waschlappen?

Da bin ich überfordert beziehungsweise überfragt. Allerdings sieht man die Folgen: Die Menschen ziehen sich ins Private zurück oder suchen kurzweilige Ablenkung von dem dauernden Ohnmachtsgefühl.

HOLGA ROSEN

Der Pessimismus betrifft alle Altersgruppen. Von 7000 befragten 16- bis 26-Jährigen in Deutschland und fünf weiteren europäischen Ländern glauben lediglich 22 Prozent, dass es ihnen einmal besser gehen wird als ihren Eltern. Überrascht Sie das?

Jein. Auf den ersten Blick ist es aus erwachsener Sicht natürlich sehr erschreckend, wie naiv man in diesem Alter noch sein kann. Man fragt sich: Was stimmt mit diesen 22 Prozent nicht? Wo leben die denn, schauen die keine Nachrichten? Aber wenn man genauer hinsieht, relativiert sich die Zahl. Denn zum einen bedeutet es ja, dass gut drei Viertel zu einer vernünftigen Einschätzung ihrer Zukunft in der Lage sind. Zum anderen wissen wir nichts über die Eltern der Befragten. Sind die Eltern dieser 22 Prozent lepröse cracksüchtige Zwangsprostituierte oder einbeinige obdachlose Fahrradkuriere?

Oder gar niedergelassene Ärzte? – Denen geht es richtig dreckig, was die so beim Abschlag erzählen, klingt nach der absoluten Hölle. – Bei einem solchen Elternhaus jedenfalls könnte es den 16- bis 26-Jährigen mit Fleiß, Ausdauer, Talent und einer gewaltigen Portion Glück durchaus gelingen, einen höheren Lebensstandard als die Eltern zu erreichen. Man muss das also differenziert betrachten.

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Aber die entscheidende Frage lautet doch: Ist das Gefühl der Überforderung und Machtlosigkeit substanzlos oder gibt es gute Gründe für die Untergangsstimmung?

In kleineren Habitaten wird es auch in ein paar hundert Jahren noch Exemplare geben, aber zweifellos hat die Spezies Mensch die längste Zeit auf diesem Planeten schon hinter sich. Da lässt sich nichts mehr machen.

Sie meinen also, auch die Politik ist machtlos?

Nicht in allen Bereichen. Nehmen Sie als Beispiel Angela Merkel. Man kann über Merkel sagen, was man will – zum Beispiel, dass sie die Infrastruktur hat verkommen lassen oder dass sie die Digitalisierung der Behörden und den Glasfaserausbau verschlafen hat oder dass sie das Wohnraumproblem ignoriert und die Probleme im Gesundheitssystem vernachlässigt hat oder dass sie die Energieversorgung des Landes aufs Spiel gesetzt hat, dass sie keine einzige nennenswerte Reform, ja nicht mal ein Reförmchen hinterlassen hat, dass sie überhaupt das willige Flittchen der Energieund Bankenlobby …

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Ja, ja, Satan persönlich. Jetzt kommen Sie doch bitte mal zum Punkt!

Also man kann über die Frau sagen, was man will, aber eines muss man Dr. Angela Merkel lassen: Sie hat es geschafft, die Bürger zu beruhigen, sie konnte ihnen ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Ihr Wahlslogan war: »Sie kennen mich.« Das ist es, was die Deutschen sich eigentlich wünschen: dass Mutti sich kümmert, dass Mutti macht, dass alles gut wird. Trotz der hängenden Mundwinkel strahlte sie Zuversicht aus. Oder zumindest Gelassenheit. Wie eine Kuh auf der Weide. Beobachten Sie mal eine Viertelstunde lang eine grasende Kuh, das beruhigt ungemein. Und genau so war es, Merkel beim Regieren zuzuschauen.

Und die jetzige Regierung kann das nicht?

Leider. Um bei der Familienmetapher zu bleiben: Robert Habeck ist diesbezüglich zwar am merkel- beziehungsweise mutti-ähnlichsten, er macht aber eher den Eindruck eines überforderten alleinerziehenden Papis, der nicht »nein« sagen kann und eine Woche mit der Wäsche hinten dran ist. Lindner ist der klassische Enkeltrick-Betrüger, mit dem Unterschied, dass es sich wirklich um den eigenen Enkel handelt, der der Oma das Geld klaut, um ihr danach vorzuwerfen, sie hätte besser aufpassen müssen. Und Scholz ist der überheblich grinsende Onkel, der still in der Ecke hockt und alles laufen lässt, solange er in Ruhe sein Sudoku machen kann.

Haben die Medien und ihre zugespitzte Berichterstattung auch eine Mitschuld an der Erschöpfung? Niemand glaubt doch ernsthaft, dass Olaf Scholz den ganzen Tag lang nur Sudokus macht. Sollte mehr über Erfolge berichtet werden? Darüber, dass Deutschland letzten Winter deutlich weniger Gas verbraucht oder dass Lilly Becker nach der Scheidung einen neuen Job in Dubai gefunden hat?

Diese Gute-Laune-Propaganda würde von den Menschen durchschaut werden. Dafür sind sie viel zu clever.

Manche machen auch das Internet und die sozialen Medien mitverantwortlich für das Gefühl der Überforderung.

Das ist Bullshit. Das Internet ist demokratisch. Das gefällt vielen nicht, weil sie ihre Deutungshoheit verlieren. »Seht her, ich habe einen Doktor in Mikrobiologie und 20 Jahre lang dies und das erforscht und ich sage euch jetzt Folgendes über dieses Virus« – solch elitäres Gehabe funktioniert zum Glück nicht mehr. Jeder kann nun völlig neutral seine individuelle Sicht der Dinge darstellen, und eine Handvoll CEOs entscheidet darüber, welcher Nutzer was davon zu sehen bekommt. Das ist Demokratie! Das ist Freiheit! Davon sollte niemand überfordert sein. Geben Sie nicht dem Internet die Schuld, das Internet ist die Lösung. Es hat alleine in meiner Nachbarschaft schon hunderte Amokläufe verhindert.

Wie das?

Wenn ich zum Beispiel so richtig aggressiv werde, weil die Entspannung beim Yoga mal wieder nicht sofort eintritt, schaue ich mir Tiktok-Challenges an. Oder das hier. Das ist auch gut. Da hat jemand Vögeln in ursprünglich eher langweiligen Videos digital Arme verpasst, mit denen sie Dinge tragen, sich gegenseitig verprügeln oder Instrumente spielen. Das ist erstaunlich komisch. Wollen Sie mal sehen?

Klar doch. Zeigen Sie mal! – Jaha! Herrlich. Diese Enten. Haben Sie die Sombreros gesehen? – Warten Sie mal. Kennen Sie das hier? Das ist auch gut.

Ou, ja. Voll auf die Fresse. Geschieht ihm recht. Was für ein Idiot!

Ja, echt. Was für ein Idiot. Da sind sich auch in den Kommentaren alle einig, dass das ein Idiot ist.

Sag ich doch: Die Technik verbindet und eint die Menschen.

Noch mal zurück zur Erschöpfungspandemie, Stichwort »Hoffnungslosigkeit«. Ernst Bloch schreibt …

Zuerst muss ich Ihnen das noch zeigen. Das ist wirklich krass.

Ok. Das Interview können wir ja auch morgen noch zu Ende führen.

CARLO DIPPOLD

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