Krautsalat und Puzzle

Wie üblich animalisches Grunzen vom Klo her. Gleich wird er rufen: »Mama, kein Klopapier!« Doch diesmal nicht. »Mama, wir müssen was tun!«, schrie das Pubertier. Seit dem Nachmittag hatte ich ihn nicht mehr gesehen, nahm an, er würde wie üblich mit seinem Handy den Tag auf der Kloschüssel sacken lassen. Nun gab’s gleich Abendbrot und der Junge schrie.

Natürlich muss man was tun, das kann ja Reizdarm sein! Oder Würmer – Würmer sind neben Corona die zweithäufigste Plage im Bildungsbereich.

Mein Sohn hatte Tränen in den Augen, die Hose noch nicht zu und rief: »Ich habe alles gesehen, a-l-l-e-s, die ganze Scheiße, live bei Instagram.« Seine Scheiße auf Insta, wie denn das?

»Also, was denn nun eigentlich?«, fragte ich.

»Na die Ukraine, die Russen, diese Scheißrussen, Opas Freunde!«

Er stürmte in die Küche, riss den Kühlschrank auf und stopfte Fruchtjoghurt und die sündhaft teure Bio-Salami in seinen Rucksack. So verproviantiert will er doch nicht etwa in den Krieg ziehen?

DORTHE LANDSCHULZ

Insgeheim war ich schon ein bisschen stolz, meinen Sohn, den eigentlich die reale Welt kaum interessiert, außer es müssen Turnschuhe gekauft und Fußballspiele gespielt werden, so bewegt, so mitleidend zu sehen. Was waren wir Eltern dumm gewesen. Wir dachten immer, er würde abstumpfen bei seinem täglichen Kriegsspiel am Computer, dem Geballer und dem Sterben im Sekundentakt. Aber offenbar ist er ein Fall von digitaler Empathisierung.

»Aber weißt du …«, begann ich leise.

»Du brauchst mir gar nichts zu erklären, den Krieg und die ganze Scheiße. Weiß alles. Den historischen Kontext und so weiter.«

»Aber weißt du, der Joghurt war eigentlich fürs Frühstück gedacht«, vollendete ich meinen Satz, »und vielleicht helfen wir den Menschen in der Ukraine damit auch nicht so richtig. Er ist übermorgen abgelaufen. Vielleicht ist dann der Krieg …«

»Der Scheißkrieg, meinst du!«, schrie er. »… schon gewonnen.«

»Gewonnen? Auf welcher Seite stehst du denn, Mama? Mal wieder auf der Seite von Opa, diesem Kommunisten, oder was?«

Das ließ ich erstmal so im Raum stehen. Der Opa ist in unserer Familie sozusagen ein rotes Tuch. Eigentlich wollten wir ja essen. Sein kleiner Bruder saß mit angezogenen Knien im Sessel und malte sich versonnen mit Edding gelbe und blaue Linien übers Gesicht. Der Mann kam rein, zerknallte das Urlaubssparschwein auf dem Abendbrottisch – »im Krieg müssen alle leiden!«. Statt für Flüge in die Sonne solle das Geld in die ukrainische Kriegskasse fließen. Der Große sagte: »Im historischen Kontext versteht der Russe nur eine Sprache: harte Sandionen!«

»Sanktionen«, flüsterte ich.

»Aber sonst stimmt’s, oder?«, rief er.

Ja, die Sanktionen. »Wir müssen taktisch handeln, den Feind zermürben«, sagte der Mann, »vor allem dürfen wir nicht vom Russen …«

»Scheißrussen, meinst du wohl«, schrie der Sohn.

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»… abhängig sein.« Er setzte den Wodka auf die Sanktionsliste, substituiert durch ein regionales Produkt: Nordhäuser Doppelkorn. Ich kippte demonstrativ den Kaviar ins Klo.

Ja, der Russe hat uns voll im Griff. Das bisschen Ökostrom, das Deutschland aus mecklenburgischer Windkraft bezieht, reicht gerade mal für meinen Damenrasierer. Alles andere, der Fernseher, die Waschmaschine, die beheizte Fensterbank mit den Cannabis-Schösslingen – alles läuft mit Russenstrom, -wärme, -gas. Das galt es zu stoppen.

Die Kinder drehten sofort sämtliche Heizkörper auf das Sternchensymbol. Der Kleine brachte die Jacken. »Ich stelle ab jetzt das Kochen ein«, verkündete ich. Nur noch kalte, rohe Speisen: Krautsalat mit Tartar, Eierdrink mit Knuspernudeln, Sushi statt Sonntagsbraten. Die Fußboden-Heizung wird rausgerissen und ein gemütlicher Kachelofen wird gebaut. Das haben jetzt viele Berliner in Mitte wiederentdeckt. An einem kalten Abend stinkt es wie zu Honeckers Zeiten nach verbrannter Dachpappe und alten Autoreifen.

Der große Sohn bot selbstlos an, aufs Duschen zu verzichten. »Diese Sanktion ist doch bei dir schon seit einem halben Jahr in Kraft – und? Hat sie den Krieg verhindert?«, fragte der Mann spitz.

Unsere Handyakkus speisen wir künftig mit unserer Körperenergie. Eine Stunde auf dem Stepper reicht für zwanzig Minuten Instagram.

Aber was ist mit der Playstation, diesem furchtbaren Verbraucher fossiler Energien? »Macht nichts«, meinte der Teenager und sah ziemlich blass dabei aus. »Ich wollte schon immer mal wieder puzzeln.«

»Prima«, sagte ich, »wir haben doch noch das Puzzle im Schrank, das dir der Opa mal geschenkt hat – der Rote Platz in Moskau, 2000 Teile.«

Licht haben wir an diesem Abend nicht mehr angemacht, nur ein Solarlämpchen brannte. Unten auf der Straße hatte ein Motorrad eine Fehlzündung, der Knall hallte von den Mauern wider. Wir guckten einander erschrocken an. »Scheißputin«, murmelte der Sohn.

Fürs Abendbrot hatte ich Kartoffeln gekocht, bevor wir in den Stromboykott gegangen waren. Kartoffeln sind ein prima Wärmespeicher. Man kann sie bei Minusgraden in ein Küchentuch einschlagen und mit ins Bett nehmen, an die Füße. Hält bis zum Morgen. Aber jetzt aßen wir sie stumm auf.

Aus unseren kalten Zimmern hinaus schauten wir über den Hof zu den Nachbarn, hinter deren Fenstern unverschämt hell die Lampen brannten und die Flachbildschirme flackerten. Dort lief der Krieg. Aber sie schauten gar nicht hin. Sie beugten sich über ihre Handydisplays – dort lief derselbe Krieg.

Der Abend endete in historischem Optimismus. »Unser bisschen Gasverbrauch wird der Putin gar nicht merken«, sagte der Sohn und drehte die Heizung wieder auf. »Aber langfristig, so in zwanzig bis dreißig Jahren, im Kontext mit der Klimawende und so weiter … scheißen wir aufs Russen-Gas.«

Der Kleine kicherte. Auf Gas scheißen – wie soll denn das gehen? Er weiß eben noch nicht, wie man im Krieg die Angst besiegt.

FELICE VON SENKBEIL

Auslese