Wir haben von nichts gewusst. Echt jetzt

In eigener Sache

Das Telefon steht nicht still, der Shitstorm schwillt zum Orkan! Unter den Fenstern unserer Redaktion auf dem Markgrafendamm im Friedrichshain stehen erregte Leute, manche mit Lastenrädern, manche mit Traktoren, brüllen, schütteln Fäuste, Journalisten hetzen hin und her. Die Polizei steht einige Meter weiter, kümmert sich aber nur um die Bewachung des nun berüchtigten Bauwagengeländes und die lückenlose Observierung des Kaffee-Automaten im Foyer des gegenüberliegenden Discounters. Wir müssen uns äußern. Und – das sei nicht unerwähnt – auch die Organe haben Fragen, ernste Fragen, berechtigte Fragen.

Markgrafendamm: Sollten die verbliebenen RAF-Rentner versuchen, hier ihre Pfandflaschen abzugeben, steht die Polizei bereit.
FOTO: ANDREAS KORISTKA.

Nun denn also: Es stimmt. Jahrelang haben wir »Tür an Tür« mit dem linksradikalen Terror gelebt, dieselbe Luft am Ostkreuz geatmet, an derselben Dönerbude angestanden. Manchmal, wenn wieder ein Geldtransporter überfallen worden war, hörten wir sie drüben bei den stinkenden Hütten und Wohnwagen bis in die Nacht (gute wie schlechte humoristische Texte entstehen fast immer nach Mitternacht) Gunter-Gabriel-Songs grölen: »Komm unter meine Decke!«

Vielleicht haben wir etwas geahnt. Vielleicht hätten wir etwas ahnen müssen!

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Denn es klopfte ab und zu mal jemand und wollte auf unsere Toilette (die scheißen da drüben an der S-Bahn-Böschung in den Flieder!). Das können nur Feinde unseres Grundgesetztes sein, hätten wir uns sagen müssen, Leute, die vor nichts zurückschrecken. Ein Anruf beim Kontaktbereichsbeamten hätte genügt, um die Terroristen zu enttarnen, und unsere Heftverkäufe wären in bürgerlichen Kreisen durch die Decke gegangen.

Aber wir waren oft auch irgendwie auf der falschen Spur (Altkommunisten brachten Spirituosen, die nicht verkommen durften). Wir machten böse Sachen gegen Günther Krause, Dieter Bohlen, Helmut Kohl – und Detlev Rohwedder (weil wir nicht wussten, dass die Breuel noch viel schlimmer sein würde). Ein paar Tage später … grölten sie: »Komm unter meine Decke!« – es war ekelhaft.

Einmal stand unser Chef an der Lidl-Selbstbedienungstheke, um Eibrötchen für die gesamte Mannschaft zu holen. Von dort aus kann man, wie wir jetzt wissen – und damals vielleicht hätten ahnen können –, das Dach von Garwegs Bauwagen sehen. Plötzlich spürte der Chef im Bereich des unteren Rückens etwas Hartes und den Atem seines Peinigers im Nacken. Erstarrt wartete er auf Anweisungen, etwa derart: »Du kommst jetzt ganz langsam mit mir raus – und keinen Pieps, sonst bist du EULENSPIEGEL-Chef gewesen!« Getrieben von Angst packte er hastig sämtliche Eibrötchen in die Tüten. Da hörte er den Killer sagen: »Ooch, Süßer, ich wollte auch noch eins.« Natürlich war der Typ verschwunden, bevor unser Chef ihn beweisfest identifizieren konnte.

Und dann Jahre und viele Terrortaten später – das: Ein Individuum krakeelte in der Zugangsschleuse zu unseren Räumlichkeiten. Es bat um ein Gratisexemplar mit einem Werk von »diesem Bombenleger Arno Funke«. Die Redaktionssekretärin verwies ihn ins Treppenhaus. Von unten rief eine Frauenstimme. Der Mann sagte genervt: »Ja, doch, ich komme gleich!« – und, wie entschuldigend zu unserer Kollegin: »Was für eine Klette.« War sie das? Die Klette? »Die Brasilianerin«, die mit einer Panzerfaust in eheähnlicher Beziehung lebte? Dann sagte der Mann: »Na, da mach ich mich mal aus dem Staub!« – und verschwand.

Die Sekretärin musste sich legen. »Staub! Staub!«, flüsterte sie immer wieder. Inwieweit sie in die RAF-Strukturen involviert war, ob sie die Fahndungsplakate vor ihrem inneren Auge sah oder ob sie vom Charisma bzw. dem Körpergeruch des Terroristen benommen war – die Ermittler können sie nicht mehr fragen. Sie lebt in einem Seniorenstift für ehemalige Chefsekretärinnen bei Weimar, das sich ein Schweigegelübde auferlegt hat.

Nach diesem Schlüsselerlebnis hat in der Belegschaft ein tiefer, zuweilen schmerzhafter Selbstverständigungsprozess über die Rolle des Humors in der entwickelten demokratischen Gesellschaft stattgefunden, in dessen Verlauf wir unsere Zimmer mit den Farben des Frühlings gestrichen und dem Terror abgeschworen haben. Heute können wir stolz sagen: Wir sind wieder bei Heinz Erhardt (»Das beste Essen ist immer noch das Trinken«).

Auch für den Fall, dass unser Chef am Lidl-Tresen wieder eine Pistole am Po spürt, ist Vorsorge getroffen – den Einkauf erledigt ein Doppelgänger.

In der Hoffnung, diese leidige Angelegenheit nun ein für allemal aus der Welt geschafft zu haben, verbleiben wir mit einem herzlichen

Rot Front!
Euer EULENSPIEGEL-Kollektiv

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