Phänomene der Rechtsprechung

»Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte ist kontaktschuldig. Um weitere schuldhafte Kontakte zu unterbinden, kennt unser Recht nur die Möglichkeit des einverständlichen Freitods unter Aufsicht eines Kontaktbereichsbeamten, der gebührenden Abstand einzuhalten hat. Die Verhandlung ist geschlossen. Vermeiden Sie Kontakte in- und außerhalb des Gerichtsgebäudes. Sonst sind Sie die Nächsten.«

Der Angeklagte stand auf und gab durch die Handfesseln hindurch seinem Anwalt die Hand, der daraufhin sofort in U-Haft genommen wurde – wegen nachweislicher Kontaktschuld (Fotoreporter waren zugegen).

Da hilft auch kein Beten: Ihr droht ein Strafmaß zwischen einer Woche Pranger und zwei Jahren Haft, weil sie andächtig den Worten eines Pädophilen gelauscht hat.

Trotz Umsicht und unablässigem öffentlichen Händewaschen werden immer mehr Menschen kontaktschuldig. Zum Beispiel eine Siebenjährige, die notgedrungen Kontakt zu ihrem Vater hatte – sie durfte daraufhin die Waldorfschule nicht besuchen (wahrscheinlich ist der Kerl in der SPD, was heutzutage ganz schlecht ankommt).

Als Hans Modrow noch im Friedrichshain schwimmen ging, wurde eine Seniorenplanschgruppe, die arglos das Gewässer mit ihm teilte, von der Warteliste für Hüft- und Kniegelenke getilgt. Eine Lokalpolitikerin im Saale-Orla-Kreis, die einen stadtbekannten Reichsbürger an der Edeka-Kasse in Lobenstein mit ihrem Einkaufswagen am Hintern touchierte, verlor ihre Fahrerlaubnis und ihre Angelkarte. Wahrscheinlich kommen ihre vier Kinder, die sporadisch Kontakt zu der Frau hatten, die sie »Mutter« nennen mussten, ins Heim.

Die Furcht, sich eines Kontakts schuldig zu machen, ist allüberall. Nicht nur der Kontakt zu Personen, auch der zu Orten und Gegenständen kann gefährlich sein. In Berlin-Köpenick verlangte eine Frau die Scheidung, da ihr Mann an eine Eiche gepinkelt habe, unter der dauerhaft ein Steuerbetrüger lebt. Die Urteilsbegründung hat den Steuerfall aber weggelassen und nur auf das »öffentliche Urinieren« abgestellt. Die Angst, sich durch Kontakt mit Gegenständen aus dem Dritten Reich für immer zum Obst zu machen, ist obsessiv verbreitet. So berichtete die Berliner Zeitung (17.12.21) von einem Versuch in den USA. Dort wurde einer Gruppe von Männern angeboten, »probeweise« einen Pullover »überzuziehen«, den Hitler einst getragen hat. Alle haben angstvoll abgelehnt – und es nie bereut.

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Noch gar nicht abzuschätzen ist, wie die Einführung des Kontaktschuld-Delikts sich auf das Intimleben auswirkt. Die Frage an den Partner, »Hast du mit dieser Schlampe Kontakt gehabt?«, wird derzeit noch mit grammatikalischen Spitzfindigkeiten beantwortet: »Nicht mit der, sondern zu der, Liebling – sie ist doch meine Vermögensberaterin.« Im Intimbereich ist es juristisch völlig unklar, ob nur vollkommen Erblindete a priori von einer Kontaktschuld freigestellt sind. Oder ob noch die Kategorie der Haut-Kontakt-Schuld eingeführt werden muss.

Um nicht später einmal des Kontakts mit einem unmöglichen Menschen geziehen zu werden, wählen viele Frauen neuerdings die »unbefleckte Empfängnis«. Das hat auch den Vorteil, dass man das Kind, das daraus hervorgeht, nicht wegen seines Erzeugers ins Gefängnis bringen kann.

Es gibt aber Bestrebungen liberaler Juristen, die Kontaktschuld aus dem Bereich der Strafbarkeit herauszunehmen. In sogenannte »Kontaktbekenntnis- und -bereinigungsstellen« (KBUBSt.) sollen unter der Gesamtleitung von Joachim Gauck nach dem Vorbild der Beichte schuldhafte Kontakte in den Bereich der Ordnungswidrigkeit geholt werden. Alles natürlich per Internet-Konferenz.

Das Beste ist allerdings, Kontakte konsequent zu meiden.

Den Lebenden mag das noch gelingen. Aber auf den Friedhöfen wird es Mord und Totschlag geben.

MATTI FRIEDRICH

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