Was haben wir euch bloß angetan!?

Von MATHIAS WEDEL

Kurz bevor die Westmark in den Osten kam, fuhr ich zum ersten Mal nach Westberlin – in die Masurenallee, zum Sender Freies Berlin. Ich wollte der Intendanz mein Manuskript »Der Mulchgarten in der sogenannten DDR – ein verzweifelter Versuch des Widerstands gegen die Diktatur« andienen. Aber an der Pförtnerloge hieß es freundlich: »Hier gibt es keine Bananen, hier gibt es für euch überhaupt nichts umsonst!« Auf der Rückfahrt mit der S-Bahn forderte mich eine Dame auf, für sie den Sitzplatz freizumachen. »Sitzen könnt ihr drüben«, sagte sie, und ein Mann setzte grinsend hinzu: »Das seid ihr ja gewöhnt.« Woran die meine Ostberliner Herkunft erkannten? »An den Zähnen!«, sagte mein Zahnarzt im Friedrichshain und zog mir alle vorderen, so dass ich für ein typisches Westgebiss den ersten Kredit meines Lebens aufnehmen musste.

Zeichnung Karsten Weyershausen

Neulich fuhr ich zum zweiten Mal nach Westberlin – Friedrichstraße, Bellevue, Bahnhof Zoo! Wie aufregend! Wie süß doch die Freiheit schmeckt! Unweit des Zoos versackte ich an einem Bierausschank, um mir ein bisschen Mut anzutüteln – wie würden die Westberliner diesmal auf meine primären und sekundären ostdeutschen Rassemerkmale (stechender Geruch nach Iltis, Kassengestell, schiefe Absätze, schiefes Grinsen und das durch die Stasi verschuldete ständige scheue Umsichblicken) reagieren?

Großartig – ich wurde freigehalten! Im Westen hat sich die Stimmung gegenüber uns Ostdeutschen in den letzten dreißig Jahren um 180 Grad gedreht! Die Leute sind so offen, empathisch, fürsorglich, fast zärtlich zu unsereins. Sie korrigieren sich auch gegenseitig, wenn sich unversehens ein scharfer Ton über den Osten in ihre Rede flicht. Auf der Straße hörte ich einen Betrunkenen »Scheiß Zoni!« rufen (er meinte nicht mich). Sogleich erhoben sich die Stimmen mehrerer Frauen und rüpelten den Mann zurecht. Es seien sicherlich auch ostdeutsche Lebewesen in Hörweite, riefen sie, und das seien schließlich Menschen, »wie wir«.

Weiter geht es im EULENSPIEGEL 09/2020.

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