Einfach mal »Tach« sagen!

Ich verlange nicht viel von meinen Kindern. Sie sollen in der Öffentlichkeit keine Popel essen, ab und zu »danke« sagen und im Bett die Schuhe ausziehen. Und … wenn es angebracht ist, erwarte ich eine angemessene Begrüßung. Da bin ich eigen und vielleicht versaut.

Wir mussten als Kinder immer das Händchen geben. Ich kann noch heute an einem Händedruck erkennen, ob jemand besoffen ist. Dann wurden wir zum Strammstehen mit Pioniergruß und Meldungmachen beim Klassenlehrer verdonnert. Vor dem Sportunterricht sollten wir die Augen nach links und geradeaus drehen, eine koordinatorische Herausforderung für mich. Trotzdem hätte ich das nie verweigert. Im Gegenteil, mit der Begrüßung ging es los und mit der Verabschiedung war es vorbei. Und jeder wusste, wie die Verhältnisse sind.

ANTON HEURUNG

Wenn der Chef Küsschen verteilt, will er Überstunden oder man arbeitet in der Filmbranche, wenn der Bankberater einem die Hand gibt, hat man mehr als die meisten auf dem Konto, und wenn der Partner einen von hinten umarmt, sollte man sich nach einem anderen umsehen.

Menschen machen das, um ihre Beziehung zu definieren. »Wer mich grüßt, dem bin ich nicht ganz egal«, denken sie vielleicht. Hunde schnüffeln sich am Arsch, Affen küssen einander die Oberlippe und Pferde springen sich an. Nur unsere Kinder können nicht einmal »Hallo« sagen. Es gab Zeiten, da wurden Nachbarn der Hausgemeinschaft mit »Guten Tag!« begrüßt. Man wünschte sich ein schönes Wochenende oder einen »fröhlichen Tag der Deutschen Einheit«. Gegrüßt wurde jeder, auch wenn er bei der Stasi, ein Kinderschänder oder ein Ausländer war. So viel Anstand musste sein.

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Man grüßte sogar im Zug, beim Einkaufen, im Fahrstuhl, auf dem Bahnhofsklo oder im Wartezimmer des Zahnarztes. Und man wurde eigentlich immer zurückgegrüßt.

Ich habe das noch so drin, und manchmal passiert es mir, dass ich in das virenverseuchte Vorzimmer des Kinderarztes ein heiteres »Guten Morgen!« trällere. Und die Kinder fragen dann ihre Mütter, wer die Alte sei, die sie so ansprechen darf.

Kinder müssen nicht mehr grüßen. Sie müssen eigentlich gar nichts mehr. Aber sie können, wenn sie wollen.

Seit kurzem hängen in unserer Kita süße Zeichnungen, die Begrüßungsgesten vorschlagen. Die bunten Männlein (könnten auch Weiblein sein) klatschen die Hände gegeneinander (»high five«), berühren die Fäuste (»fist bump«) oder springen mit dem Brustkorb aufeinander zu (»chest bump«). Der wurde erstmal nur den Kindern untereinander gestattet, auch weil einige Väter dies als Einladung zum Brüstegrapschen bei den Erzieherinnen missverstanden hätten. Es gibt auch den Soldatengruß (Hand an die Stirn), den Handwerkergruß (Daumen an den Mund) und das Küsschen (ohne Zunge). Die Betreuer machen alles, was gewünscht wird. Das Kind muss nur stumm auf das Bildchen zeigen, schon steht der Betreuer mit passender Geste bereit.

Wir Eltern fanden dies eine sehr gelungene Idee. Die Individualität wurde gefördert und der Virenaustausch minimiert. Vielleicht würden die Kleinen auf diesem Weg auch zum Großelternbesuch ab und an ein »Guten Tag« über die Lippen bringen.

So weit ging es dann doch nicht. Der Fist-Bump wurde meinen Kindern bald zu langweilig. Beim Brust-Check brach sich der Opa die Rippen. Und das Küsschen wollte ich nicht auf den Briefträger und die Putzfrau ausdehnen.

Neue Rituale mussten her.

»Wie begrüßen sich Wale eigentlich?«, fragte ein Papa im Chat der Whatsapp-Gruppe. »Und was erwartet eine chinesische Königin zur Begrüßung?« Damit hatten wir eine neue Dimension der menschlichen Kommunikation erreicht. Wir kreierten mit unseren Kindern fantasievolle Begrüßungsrituale.

Die Kleinen malten sich als Könige und Ritter, als Kolonialherren und Diktatoren. Dazu bastelten sie die passenden Kostüme und verteilten Requisiten. Meine Tochter wollte als Rotkäppchen vom Wolf im Großmutter-Outfit begrüßt werden. Dafür verteilte sie jeden Morgen eine Flasche Wein ans Kitapersonal. Andere erwarteten, dass die Kitaleitung Spalier stand und »Halleluja« sang. Dabei mussten sich alle Bärte ankleben und Bananen in die Hosen stecken. Ein Kind wollte wie ein Hund begrüßt werden, also rektal.

So bekam jeder seine eigene Zeremonie. Das konnte bei dem Personalmangel natürlich nicht ewig so weitergehen. Nun haben wir uns auf einen Minijobber im Eisbärenkostüm geeinigt, der jedem Kind den Diener macht. Aber einen »Guten Tag« wünschen die ihm nie.

Felice von Senkbeil

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