Freude schöner Frühlingsdüfte
Frühlingszeit heißt: endlich wieder Balkonzeit. Und so saß ich mit meinen Mitbewohnerinnen auf dem Balkon, alle schon ein paar Kräuter im Tee, als ein intensiver süßlicher Duft meine Nase streifte. Es war der Salbei, den meine Mitbewohnerin frisch aus dem Gartencenter in Balkoniens Blumenbeete versetzt hatte. Ich klinkte mich aus dem Gespräch aus, um zu riechen, zu wittern, zu schnuppern und zu schnobern und fast sogar zu sniffen, mindestens aber zu schnüffeln, als sei ich ein unbegabtes Trüffelschwein, das gerade seine allerletzte Chance auf einen satten Fund erhalten hatte, ansonsten geht’s zum Schlachter.
Nach kurzer Zeit war mir das bloße Distanzriechen allerdings nicht mehr genug. Als ich mich unbeobachtet fühlte, riss ich ein Blatt vom Salbei ab, rollte einen kleinen Ball daraus, steckte ihn in meine Nase und schwebte für den Rest des Abends im siebten Himmel. Jetzt hatte ich Blut geleckt bzw. ätherisches Öl gerochen, verfuhr wenige Tage später auf gleiche Weise mit einem Zweig Rosmarin, und siehe da: Erneut stellte sich ein ungekannter olfaktorischer Hochgenuss ein.
Nun waren mir Kräuter zusammen mit Blumen, Babys und frischem Brot natürlich für ihren Wohlgeruch bekannt, Ausmaß und Intensität dieses Wohlgeruchs waren mir allerdings nicht bewusst. In den folgenden Tagen fragte ich mich daher, welche nasalen Befriedigungen bislang noch an mir vorbeigezogen waren. Und so begann ich mit Ende Zwanzig das erste Mal im Leben wirklich zu riechen.
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Die größte Vielfalt an Gerüchen fand meine Nase im Supermarkt, wo sich nicht nur Genuss, sondern schnell auch eine gewisse Könnerschaft einstellten. Bald konnte ich den Reifegrad von Wassermelonen am Geruch erkennen, ganz ohne so zu tun, als würde mir das Klopfen irgendetwas sagen. Ich konnte bei Tomaten nicht nur die süßen von den wässrigen unterscheiden, sondern anhand der an ihnen haftenden Tulpen-, Gülle- oder Windmühlennoten sogar erkennen, in welcher der zwölf niederländischen Provinzen sie unter Plastikfolie herangereift waren. Doch da hörte es noch lange nicht auf. Auch Wein konnte ich unfehlbar sicher Herkunftsregion und Jahrgang zuordnen – durch die Flasche hindurch. Ich konnte sogar feststellen, ob die Arbeiter im Weinberg des Herrn Unternehmers Mindestlohn erhielten und auch in den Pausen bezahlt wurden (der Wein roch etwas stärker nach Urin, wenn nicht), oder ob der Winzer und seine Frau in letzter Zeit viel stritten.
Mein neues Talent schien keine Grenzen zu haben. Roch ich an Hautcreme, konnte ich feststellen, welcher Promi aktuell dafür im Fernsehen warb, schnupperte ich an Produkten börsennotierter Firmen, erkannte ich den aktuellen sowie, und das brachte mir buchstäblich einen großen Gewinn, den künftigen Aktienkurs des Unternehmens.
Mit der Zeit bereitete mir meine Wundergabe jedoch Probleme. Wo ich ehemals mit beiden Nasenbeinen fest auf dem Boden der olfaktorischen Grundordnung gestanden hatte, wollten meine Nasenflügel nun zu nah an der Sonne fliegen. Ungefragt, ich konnte nicht anders, teilte ich Frauen auf der Straße mit, dass sie schwanger seien, und manchmal auch den Männern an ihrer Seite, dass das Kind nicht von ihnen war, was viel unnötiges Leid erzeugte. Ich sagte unfehlbar Krankheiten und Todesfälle voraus und hatte sogar bei der Wahl meiner Rubbellose immer den richtigen Riecher und gewann 20 Euro!
Irgendwann stellte ich fest, dass selbst die Zeit keine Grenze mehr für meine Nase darstellte. Stellte ich mich in die Mitte Deutschlands (500 Meter nördlich von Niederdorla in Thüringen), konnte ich am Verhältnis von Benzin-, Fritteusen-Curry- und Elektrogrill-Veggiewurstaroma die Wahlergebnisse der nächsten Bundestagswahlen bestimmen oder aufgrund bestimmter Kohlenhydrat- und Ballaststoffkonzentrationen mit Sicherheit sagen, dass und sogar wie viele Säcke Reis in der Vergangenheit in China umgefallen waren.
Zu viele Eindrücke, zu viel Wissen, zu viel Macht. Ich musste weg, suchte Zuflucht und fand sie schließlich in der Antarktis. Nicht ganz getrennt, aber dennoch weit weg von den Düften der Welt bauten mir unsere Staatenlenker einen Geruchsbunker, aus dem ich nur einmal pro Jahr trat, um das Schicksal des Universums zu weissagen, das war unser Deal. Frieden fand ich dort, echten Trost hingegen nur in dem alten Witz: »Hörst du? Die Grillen.« »Ich rieche nichts.«
KARL FRANZ
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