Ganz ohne Parabene

Manchmal, wenn ich mich so quick fühle wie heute, fällt ein Tropfen schwarzer Tinte in den Blütenregen meiner Lebenslust. Dann denke ich: Warum hast du das damals alles nur mitgemacht – hast nichts hinterfragt, niemals aufbegehrt? Gewiss, es gab Gründe: Nach dem Arbeiteraufstand 1953 hat Ulbricht das Hinterfragen strikt verboten, das Aufbegehren sowieso. Außerdem gab es schlimmere Dinge – wie diese Kekse, die mit Asbest gestreckt waren. Als dann Katrin Göring-Eckardt von den Grünen endlich für uns die Denk- und Redefreiheit errungen hatte, hatten wir andere Sorgen als diese widerlichen Dinger, diese Pestbeulen der menschlichen Zivilisation.

Nein, ich meine nicht die Atombombe.

Ausnahme zur Feier des Tages: Zu Weihnachten gibt der Autor für die anderen Heimbewohner den Weihnachtsmann und darf unter ärztlicher Aufsicht Parabene genießen.
Schon Claire Waldoff sang von schwerer Abhängigkeit: Nach meene Parabeene is ja janz Berlin varrückt.

Ich meine Parabene! Aber dann eines Tages diese Szene im Werbefernsehen: Eine gereifte Frau taucht ihren furchtbar dürren Zeigefinger in eine schleimige Masse – war es das Sperma eines Ebers, Sprühsahne oder Fahrradkettenöl? – und genüsslich, als wolle sie sogleich an diesem Finger lutschen, haucht sie: »Ganz ohne Parabene!«

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Diese verdammten Parabene! Deshalb also mein Ejakulationsversagen, wenn Grönemeyer sang, darum der furchtbare Schüttelfrost, wenn ich im Fernsehen Rodelwettbewerbe sah, und deshalb habe ich die Familienministerin um ein Haar auf der Straße des 17. Juni überfahren (allerdings habe ich sie für eine beliebige Person gehalten), deshalb der Rausschmiss aus der Firma (angeblich war ich in der Damentoilette eingeschlafen). Und dann die Jahre der Depressionen und des Alkohols und die sechs Monate Ersatzhaft in Tegel. Diese verdammten Parabene – das scheußliche Phenylparaben vorneweg, und das toxische Methylparaben nicht minder!

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Endlich entschloss ich mich zum kalten Parabene-Entzug (Ärzte warnen, er könne zum Kollaps führen). Ich schlief nicht mehr, aß nicht, wusch mich nicht und versäumte alle Schlager der 70er im rbb-Abendprogramm. Ab und zu stellten mir syrische Flüchtlinge Reste ihrer Speisen vor die Tür – ich verschmähte sie, sie waren wahrscheinlich voller Parabene. Dann der Rückfall – ich suhlte mich regelrecht in Parabenen, soff Fahrradkettenöl und Sprühsahne, nur das Sperma eines Ebers konnte der Metzger meines Vertrauens nicht auftreiben. Zusammenbruch! Im Rettungswagen fuhr eine gereifte Notärztin mit, die mir einen Zugang legte. Sie hob ihren unsagbar dürren Zeigefinger und sagte: Diese verdammten Parabene!

Oft fühle ich mich momentan so quick wie heute. Ich wohne im Heim – mein Zimmer darf nie gelüftet werden (Parabene von Putin!). Mein Arzt prüft monatlich mit Hilfe eines Eierlöffels, den er an seinem Kittel elektrostatisch auflädt und in die Luft hält, ob meine Umgebung parabenefrei ist.

Doch fällt zuweilen ein schwarzer Tropfen in den Blütenregen meiner Lebenslust, denn unsere Gesellschaft ist tief gespalten. In den sozialen Medien leugnen viele Leute eisern die Existenz von Parabenen; sie halten sie für eine Erfindung des Klassenfeindes!

Das sind wahrscheinlich dieselben schlichten Gemüter, die ihre Augen vor der Gefahr durch Neutrinos verschließen! Die sind tausendmal kleiner als Parabene, aber steuern unser Gehirn über die Darmflora! Doch diesmal werde ich nicht schweigen, werde hinterfragen, ja aufbegehren!

Nur muss ich erstmal wieder raus hier …

MATTI FRIEDRICH

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