Der Meinungskorridor
Schöner Wohnen
Der Korridor meiner Kindertage war fast so lang wie eine Kegelbahn. An seinem Ende war das, was Tante Amalie den »Abritt« nannte. Von dem ging ein mächtiger Sog aus, so dass die Tante, wenn sie ihre Wohnung betrat, ihre Einkäufe umklammern musste. Dort übte ich den dreifachen Flickflack und einmal war ich so in Schwung, dass mich der Abtritt fast eingesaugt hätte, wenn die Tante mich nicht an den Füßen zu fassen gekriegt hätte.
Bei der heutigen Wabenarchitektur ist ein Korridor ein Must-have für jeden Besserverdienenden. Er ist viereckig, eher winzig, mit tibetanischem Kork ausgelegt und enthält ein lebensgroßes Pflanzenimitat von IKEA. Intellektuelle (Solaranlagenberater und Fondsmanager) stellen dort gern drei verschiedenfarbige Barhocker vor ein beeindruckend gefülltes gespiegeltes Spirituosenregal.
Aber nicht das macht den Korridor so unverzichtbar – es ist vor allem seine Funktion als Meinungskorridor. In einer vom Kanzleramt und Christian Sievers (ZDF, »heute journal«) gelenkten Demokratie ist es ganz wichtig, dass es einen Raum gibt, wo die Wände keine »Ohren« (Alexa auf Standby!) haben und der Bürger ganz er selbst sein darf. Man wird ja heute schon als Nazi verdächtigt, wenn man seinen Wellensittich Eichmann nennt und beim Betreten seiner Wohnung die Familie lustlos mit erhobenem rechten Arm begrüßt.
Inzwischen gibt es einen ganzen Katalog von Meinungen, die den Meinungskorridor lebendig machen: dass Kopftuchmänner eigentlich Messermädchen sind, dass Neger selbst so genannt werden wollen, dass Fotzensprache impotent macht, dass dem Diesel die Raumfahrt der Zukunft gehört und Wölfe lebend gevierteilt werden müssen – davon, dass Selenskyj schwul ist und »eigentlich« was mit Putin hat, einmal ganz abgesehen.
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Wenn Tante Amalie ihre dicken Freundinnen zu Gast hatte, wurde es verdammt eng bei uns im Korridor. Die Damen hatten alle ihre Meinungen mitgebracht. Zum Beispiel, dass Ulbricht Halskrebs hat und dass »wir« den Krieg gewonnen hätten, wenn der Russe so »ritterlich« wie »die Unsrigen« gekämpft hätte. Damals habe ich mir manchmal gewünscht, eine plötzliche Verengung von Tantes Meinungskorridor würde den Weibern die Luft rauben und sie tot umfallen lassen.
Heute ist ein verengter Meinungskorridor ein Raum, in dem oft nur eine einzige Meinung rumliegen darf – und die geht etwa so: »Wie der Deutschlandfunk heute morgen im Live- Gespräch mit Kevin Kühnert herausgearbeitet hat, ist unser Kurs richtig, weil er wahr ist.« Mehr als eine Meinung geht in diesen Korridor auch gar nicht rein, denn auf dem Boden befinden sich lauter rote Linien (auch »No-Gos« genannt), die die Bundeszentrale für politische Bildung angebracht hat und die man nicht übertreten darf, es sei denn, man will aus der Wohnung fliegen. Ein Pionier der Meinungsfreiheit wie Björn Höcke darf in einem derart engen Meinungskorridor nicht einmal »Alles für Deutschland« sagen, obwohl dieser Satz dank der SA als Folklore gelten darf.
Da flitzt man am besten bis hinten durch aufs Scheißhaus. Dort kann man sich wenigstens noch nach Lust und Laune entäußern.
MATTI FRIEDRICH
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