Muss Deutschland wirklich digital?

Wir befinden uns mit Mann und Maus im Jahr 2023 n. Chr. Ganz Europa ist von Anfang bis Ende digitalisiert. Ganz Europa? Nein! Ein von unzerbrechlichen Traditionalisten bevölkertes Land hört nicht auf, Widerstand zu leisten. Sein ewiger Name: Deutschland.

In Estland genügt ein hauchzartes Streicheln des Displays, um beim Meldeamt einen Pass zu bestellen, der nach wenigen Augenblicken durch den Draht geschlüpft kommt. Bald braucht es das Geswitche nicht einmal mehr, dann genügt der blanke Gedanke kraft des körperlosen Internets der neuesten Generation. Und auch der drollige Pass gehört bald wie die ganze Steinzeit der letzten 100 000 Jahre der Vergangenheit an, weil jeder Este bis zu seinem Auspuff biometrisch erfasst, beurkundet und abgespeichert ist.

TERESA HABILD

Hierzulande ist das bares Zukunftstamtam, Deutschland liegt in Sachen Internet und Konsorten dort, wo hinten ist. »Die Bundesregierung wird deshalb die Digitila-, Moment, die Dagitili-, die Digatali-, die Digatilisie-, egal, meine Damen und Herren: Die Digitilisierung wird deshalb von der Bundisrigiering mit höchster Priorität vor allen anderen Prioritäten gefördert und gefordert!« Das hatte Bundeskanzler Olaf S. in seiner ersten, jungfräulichen Regierungserklärung verkündet – nota bene: in einer handverlesenen Rede. Muss über den Stand der Digidingsda mehr gesagt werden?

Zwei Jahre sind seither verpufft, und Telse Kleinvogel lebt im Hunsrück heute wie vor zwei Jahren ohne Kabelbuchse – und ist so lang wie breit zufrieden. »Wer bis zum kleinen Finger alternativ lebt, muss nicht von diesem Staat gewindelt werden«, ist das Credo der selbstbewussten Aussteigerin, die mit jedem selbstbestimmten Atemzug auf Privatinitiative und Eigenverantwortung in ihrem hübsch eingerichteten Bauwagen setzt: »Wir alle kommen hier gut ohne aufgezwungenes Weltnetz und fremde E-Mails aus!«

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Als selbsternannte Heroldin wandert sie täglich – selbstverständlich unten beschuht – von Weiler zu Weiler, um noch im hintersten Wald die Nachrichten von gestern für kleines Geld zu verkünden. Möglich ist das, weil sie von ihren Großeltern ein eisenhartes Transistorradio geerbt hat. Nebenbei arbeitet sie als Botin und trägt für alle Hunsrücker, die sich den modernen Luxus einer Brieftaube nicht leisten wollen, ganz ohne Gurren auch die Post aus – womit sie nebenbei der kommerzialisierten Deutschen Post den Stinker zeigt. Einmal im Monat läuft die Gute deshalb in die groß-große Ortschaft Morbach zwischen Haardtwald und Idarwald, um die postlagernden Sendungen abzuholen, wenn sie nicht gerade keine Lust hat.

Eigentlich sollte Deutschland längst in Nullen und Einsen aufgelöst sein. Tatsächlich steht in mancher Behörde wahrhaftig ein sogenannter Computer von Nixdorf oder Robotron, der beim Einschalten quietscht, nach wenigen Minuten qualmt und vor dem Explodieren schnell mit Eis abgeschreckt werden muss. Aus diesem kühlen Grunde dominiert weiter die pure Handarbeit, herrscht kaffeedampfgetriebene Gemütlichkeit statt Effizienz in Lichtgeschwindigkeit.

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Wer, nur ein krankes Beispiel von Millionen, eine Baugenehmigung beantragt, braucht Nerven aus Zement. Da die Verwaltung auf analogem Fuß lebt, sind hunderte Formulare haptisch abzufüllen und zig Gutachten auf Opas Papier einzuholen. Fehlt auf der langen Strecke ein Komma, wird der Prozess auf Null zurückgestellt. Geht es ohne Knirschen und Knacken, müssen weitere Anträge unterzeichnet und eingereicht und nachgereicht und gestempelt werden. Klafft irgendwo eine Lücke, muss womöglich doch komplett neu eingefädelt werden.

Klafft nichts, dauert es bloß noch Jahre. Drängeln verlängert den Dienstweg, auf Eile beharren führt zum Stillstand. Grundsätzlich gilt auf jeder Behörde, ob Bauen, Bildung, Brücken, Breitband oder Bersonalausweis, der staubtrockene Imperativ Gründlichkeit vor Schnelligkeit.

Bernie Kleinrübe im jedenfalls landschaftlich ganz schönen Erzgebirge tickt anders. Der Selfmademan und geborene Kommunikator hält die Verbindung zwischen den Dörfern, Höfen und Einsiedlern aufrecht und setzt bei einer sogenannten Eilpost sofort seinen Lebensgefährten in Bewegung, einen fülligen Bernhardiner. »Sie werden sich fragen, warum ich oder mein Liebster zu Fuß unterwegs sind und nicht die Postkutsche nehmen«, sagt der knorrig denkende Altöko sich und schüttelt gleich die Antwort heraus: »Weil ich das eben so will, fertig!«

Auf ganz anderem Fuß lebt Volker W. Möglichst noch im 21. Jahrhundert alle deutschen Bürger mit Leib und Seele ans Netz anschließen, das ist der Auftrag, den der rheinland-pfälzische Weinbau- und jetzige deutsche Digitalminister zu erfüllen hat. Doch Obacht now and pay attention, german Bürgers: »GovStack« und »Civic Coding«, »Manufacturing-X« und »Mobility Data Space«, nicht zu vergessen das meinungsflache »Building Information Modeling«, lauten die Eckpoints seiner Mission, damit alles bis auf den letzten Knopf fit wird für Deutschlands nächsten Battle um die World.

Musik aus der Zukunft? Denn bis das gesamte Land, alle Ämter und sämtliche Bürger in Bits und Bytes umgewandelt sind, bis sogar Estland überholt wird, ohne es einzuholen – bis es so weit gekommen ist, gibt es echte Menschen wie Hubert Birnmosl. »Rauchzeichen, mit Zunder und Badetuch einfach auf einem hohen Gipfel in Gang gebracht, reichen völlig aus«, kommt es, aus kellertiefem Bairisch sinngemäß ins Hochdeutsche übersetzt, hinter dem Rauschebart des buschigen Oberbayern hervor.

Er lehnt alles ab, was er nicht selbst gemacht hat, und vertraut nur dem, was er mit seinen fünf Zwetschgen sieht und hört. Alle paar Tage verlässt der Mann dann seine urige Erdhöhle, um die bei Freunden, Nachbarn und vom Hörensagen geernteten Neuigkeiten weiter zu verbreiten – und der Clou: Selbstgezogene Verwandte und Mitstreiter bieten der Moderne die eigene Stirn und tragen die Nachrichten über die Nachbargipfel weiter ins Land! Ohne Zwangsgebühren, ohne gemeingefährliche Radiowellen!

Natürlich kommt hier zuckerige Nostalgie ins Spiel. Aber sie harmoniert 1:1 mit abgasfreier grüner Ökologie – wie so oft ist die Provinz weiter als alle Metropolregionen zusammen. Im Schwarzwald, wo man sich mit dem analogen Körper ums Lagerfeuer versammelt, im katholischen Eichsfeld, wo die Gemeindemitglieder in der leibhaftigen Sonntagspredigt die neuesten Intimitäten über die Nachbarn und sich selbst erfahren, in der Uckermark, wo die Verständigung sogar am besten gelingt, weil sich die wenigen Menschen einfach aus dem Weg gehen – ja: Deutschland braucht kein digital. Auch ohne die scheinbar unentbehrlichen modernen Kommunikationsmethoden bleiben die Deutschen normal wie schon vor der Menschwerdung des Affen!

PETER KÖHLER

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