Die Zahnseide des Satans

Massaker im Dentallabor

Eine Blutspur führte über die Stufen der Eingangstreppe in die Praxis des Zahnarztes Diego Fratelli. »Wir brauchen nur der Spur zu folgen«, wandte sich Kriminalkommissar Wenzel Stubbe an seinen Vorgesetzten, den Kriminalhauptkommissar Carsten Kropp, »dann haben wir ihn.« Sie standen auf dem Parkplatz vor der Praxis und nahmen die Personalien des Zahnarztes auf. Dieser hatte die 110 gewählt, war ins Freie gestürmt und ging den herbeigeeilten Beamten nun mit seinen Quengeleien gehörig auf die Eier. Es war auch nicht klar, wen Kommissar Stubbe mit »ihn« meinte: den Mörder, den Zahnarzt, den Fingerabdruck, die Putzfrau Hermine Fangmann (die als Sexbesessene einen guten Ruf in der Stadt führte) oder den mysteriösen Mieter im zweiten Stock des Hauses, von dem es hieß, es gäbe ihn womöglich gar nicht, da sei Steuerbetrug im Spiel, eine sogenannte Leervermietung.

ANDREAS PRÜSTEL

Diego Fratelli hatte das Thema gewechselt und dozierte jetzt über einen ihn belastenden Vaterschaftsbeweis, den er mit einer Gegen-DNA zerbomben und vernichten würde, da würde Lava fließen. Die Lügen der triebgesteuerten Fangmann würde er aus ihren Lenden bohren, rief er. Kropp stöhnte. Er zog seine Sig Sauer P6, lud sie durch und schoss den seit Sonnenaufgang krakeelenden Kanarienvogel vom Fenstersims. Dann drehte er die Waffe, so dass der Lauf auf seinen Mund zielte und sog in tiefen Zügen den austretenden Rauch ein. Dies war seine Art, sich die Unbill des Tages wegzuschmauchen. Von E-Zigaretten hielt er nichts. »Die stinken wie Opa Suhren nach der Zweite-Weltkrieg-Erinnerungsflatulenz.« Kropp lachte trocken und rotzte einen versteinerten Kaugummi vor die Füße des Zahnarztes.

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Aus den Praxisräumen gellte ein markerschütternder Schrei (Schreie sind immer markerschütternd). »Der markerschütternde Todesschrei«, ätzte Wenzel Stubbe angewidert, »könnte von der Witwe Kohlweiser kommen, die sitzt in der Zahnreinigung, und die meckert über alles und jedes. Würde mich nicht wundern, wenn …«

Die Andeutung bezog sich auf das aufbrausende Temperament des Zahnarztes. Wer ihn kritisierte, dem setzte er mit dem Bohrer nach, eine Rachefurie im Camouflage-Weißkittel, und verdammt noch mal, der Bohrer rutschte gern mal vom Backenzahn ab und fräste sich durch das Fleisch hinein in den Knochen. Wer aber wütete drinnen in der Praxis? Wer war da zugange, wer setzte Fratellis Aufbrausung in die Tat um? »Die Fangmann und ihre Sexualpraktiken, da haben wir es!« Fratelli sabberte vor Empörung.

Kropp bekam langsam Gehirnsausen davon. Er brauchte dringend noch mehr »Stoff«. Diesmal richtete er die P6 auf die Schuhe des Zahnarztes. Ein Knall, ein Schrei. Na, der Sabberkopf hüpfte gediegen im Kreis, kreuzte die Beine und vollführte eine Tarantel, nee, Tarntante, auch nicht, Kropp stöhnte auf, Tarantula, oder nein, Tarantella, ja doch, dieses Ding mit den acht Beinen und dem Giftstachel am Gesäß. Verwirrt inhalierte Kropp den Schmauchrauch der Waffe in seine Lungenflügel. Einen Augenblick lang verschwamm die Welt um ihn, doch dann zündete ein Blitzgedanke unter seiner Hirnrinde, warf ihn fast zu Boden und löste den Fall wie schon die vorhergehenden Fälle. »Wer es nicht war, wissen wir jetzt«, knurrte Kropp, »der Fratelli ist raus.« KK Stubbe verzog die Mundwinkel. »Ja was, wer bleibt denn …«, hub er an, Zweifel in Form einer Frage zu säen, aber da war KHK Carsten Kropp, der alte Wolf, schon auf dem Weg zum nächsten Fall. Unterwegs nahm er einen letzten Zug aus dem qualmenden Lauf der Sig Sauer.

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Kropps Tatsachenbericht der Begebenheit, den er noch am selben Abend anfertigte, bekam nach einigen Jahren der Krimiautor Hans-Erwin Fuchs in die Hände. Mitsamt einiger literarischer Aufhübschungen reichte er sie zum Abdruck beim Verlag »Knochenmehl & Blutgericht« ein. Die Klarnamen habe er geändert, beteuerte er, und in Wirklichkeit sei der Zahnarzt des Mordes an der Witwe Kohlweiser verurteilt worden. Aber sein Verleger hatte ihm eins »g’schissen«, das Ende selbst geschrieben und unter seinem eigenen Namen veröffentlicht unter: »Die Zahnseide des Satans – Massaker im Dentallabor«.

HANS JOACHIM TESCHNER

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