Fünf Brüste bräuchte man

Das Sandwich-Kind hatte Geburtstag. Nächte vorher konnte ich nicht schlafen. Vor Angst. Was, wenn meine Geschenke Fehlkäufe waren? Würde er (wiederholt) ausrasten, wenn ich ihm nicht die Augen fülle? Vor allem: Was haben seine Geschwister in den letzten zehn Jahren geschenkt bekommen?

Behelfs der Notizen-App habe ich den langjährigen »Geschenkeverlauf« festgehalten, für jedes meiner fünf Kinder separat. Und zwar in den Rubriken »Sachwert« und »emotionaler Wert« und ob der betreffende Gegenstand an die Wand geschmissen wurde oder – was als erfolgreiche Schenkung gilt – in den Tiefen des jeweiligen Kinderzimmers verschwand.

HOLGA ROSEN

Es geht einfach um soziale Gerechtigkeit. Keins der Kinder soll mir, wenn sie mich dereinst am Pflegheimbett besuchen, vorwerfen, es sei zu kurz gekommen. Jedes der Kinder hat einen hypertrophierten Gerechtigkeitssinn. Die Söhne schlagen sich gegenseitig jedes Bonbon aus den Mündern, wenn es nicht geteilt wurde. Teilen ist mir sehr wichtig in der Erziehung. Deshalb müssen alle zusammen in die Badewanne, es gibt nur einen beheizten Raum, nur eine Zahnbürste und nur einen Vater, der Unterhalt zahlt (die anderen vier sind nicht auffindbar). Eine Salami in fünf gleich große Stücke zu schneiden, ist einfach, aber die mütterliche Liebe lässt sich nicht gut portionieren.

Meine Freundin hat nur ein Kind, ein Lieblingskind. Sie nennt dieses verwöhnte Gör »ihr Sonnenkind«. Meine Kinder seien alles Schattenkinder, meint sie, weil immer jemand vor ihnen steht. Das bin ich.

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Sonnenkinder haben es leicht im Leben. Sie gehen mit der Gewissheit in die Welt hinaus, dass ihnen die ganze Salami zusteht, auch wenn sie Vegetarier sind. Sie erben nicht nur eine Haushälfte und sie haben die Autorückbank für sich allein. Selbst wenn ihre Eltern sie nicht mit Liebe überschüttet haben, sie Schulversager waren oder wirklich hässlich sind – wenn man sie nicht mit Geschwistern vergleichen kann, bleiben sie immer Sonnenkinder.

Fragt man Mehrfacheltern, ob sie ein Lieblingskind haben, bestreiten das die meisten. Aber fragt man sie, mit welchem Kind sie lieber in den Urlaub fahren würden, wird sofort ein Favorit genannt (meistens das Mädchen, weil Mädchen im Frühstücksraum nicht mit Frikadellen schmeißen). Ich träume davon, einmal allein in den Urlaub zu fahren, aber das ist ein anderes Thema …

Die Folgen für die Schattenkinder sind verheerend. Sie glauben immer, zu kurz zu kommen, hassen ihre Eltern für die angebliche Ungleichbehandlung und das/die Geschwisterkind/er natürlich auch. Sie klauen später ihren Partnern das Schnitzel vom Teller und rechnen ihnen vor, wer öfter einen Orgasmus bekommt.

Der Geburtstag rückte näher und ich schnitt die Erdbeertorte in fünf gleich große Stücke, auf jedem Tortenstück dieselbe Anzahl Erdbeeren. Da kam auch schon das Geburtstagskind! Ich drückte es an meine mütterliche Brust, fünf Sekunden lang, so sieht es der Brustverteilungsplan für alle vor. Natürlich schaue ich nicht auf die Uhr, sondern zähle leise mit, damit dieser innige Moment nicht seine Poesie verliert.

Gerechtigkeitsdefizite auf dem Gebiet der körperlichen Zuwendung sind besonders schlimm respektive kränkend. Nach neuen Forschungen mit Großfamilien erzeugen sie nicht etwa libidinöse Störungen, sondern schlicht Hyperphagie (Fresssucht). Die meisten Dicken weltweit sind in Mehrkindfamilien aufgewachsen.

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Plötzlich schrie der Jubilar, die Ballons seien ja kleiner, als sie beim Geburtstag des jüngeren Bruders waren. Und wie recht der Mittlere hatte! Ich war etwas schwach auf der Lunge und hatte nicht alles gegeben. Ich entschuldigte mich sofort und bot Kompensation in Form eines Kinobesuchs mit Mama an (man muss immer etwas in der Hinterhand haben). Da grätschte der Große dazwischen: »Voll unfair. Ich hatte seit Jahren keinen Kinobesuch mehr mit Mama allein.« Er wird Ostern 17 und ich hätte gedacht, Kino mit Mama gilt bei ihm jetzt als Folter. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Auch das Sofakuscheln, das Abkitzeln und das Einseifen hatte ich bei ihm in letzter Zeit vernachlässigt. Der Kleine (6) brüllte, dass er endlich auch ein iPhone will und meine Freundin schüttelte entsetzt den Kopf. Ihr Sechsjähriger (Sonnensohn) bekam gerade die Brust gereicht und fühlte sich von der negativen Energie in unserer Küche gestört. »Diese armen Menschlein«, seufzte sie, »die werden es mal schwer haben, so ohne Grundvertrauen und ungeteilte Mutterliebe.«

Meine Kinder verstummten kurz. »Wie kommt denn die Alte auf so was?« »Ungeteilte Mutterliebe?« Jedes meiner Gören glaubt von Geburt an, mein Lieblingskind zu sein. Und ich glaube es auch.

Was das Geschenk für das Sandwich-Kind war? Ein Fußball! Die anderen vier freuten sich mit – jedes von ihnen hat ja schon einen. Und dann zogen sie als Mannschaft los.

FELICE VON SENKBEIL

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