Leiden mit Levit
UNSERE BESTEN
Depressive Jugendliche, die die Schule vermissen, Männer, die im Supermarkt verzweifelt auf die heraushängenden Nasen von Maskenmuffeln schlagen, und jeden Abend Karl Lauterbach im Fernsehen – Corona hat unsere Zivilisation nachhaltig geschädigt. Aber noch gibt es Hoffnung. Aus der Berliner Wohnung des Star-Pianisten Igor Levit tönt Musik auf die Straße. Vorher für tot gehaltene Mund-Nasenbedeckungen des Typs KN95 richten sich im Rinnstein der Metropole auf und wiegen sich im Takt der Klänge. Passanten bleiben stehen. Lauschen. Malen sie die Noten in der Luft nach oder desinfizieren sie sich die Hände? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall ist es ein Zeichen der Hoffnung und ein Sieg der Kunst über die nächtlichen Ruhezeiten.
Da, wo Igor Levit gehört wird, weiß man, dass es noch Leben gibt. Leben, das zu Hochkultur fähig ist und in den Pausen zwischen den Sätzen einer Klaviersonate sehr leise ein Eukalyptusbonbon aus dem Papier wickeln kann. Leben, das nicht aufgegeben hat zu sein, nachdem das letzte Risotto-Gericht aus dem angesagten Kochbuch nachgekocht war, die Wohnung ausgemistet, der nette Handwerker nach genauen Plänen die Spielebene für die Kinder in die Altbauwohnung eingebaut hat, das Spanisch aufgefrischt, der Körper durch Yoga gestählt und der Geist nachhaltig durch die nicht immer einfache Lektüre der Zeit beflügelt war.
Igor Levit hat mit seinen Hausmusikabenden den Soundtrack zur schweren Ära der Pandemie geliefert. Was Enya für den 11. September und Helene Fischer für den Ausflug des Kegelclubs aus Katzenbach in die Lüneburger Heide getan haben, Igor Levit tat es für Corona. Gestreamt aus seinen vier Wänden gingen zarte Töne um die Welt und machten vieles besser. Denn Musik ist so wichtig! Und Levits Musik ist besonders wichtig. Denn sie »spendet Trost« (SZ, FAZ, Wild und Hund). Wenn aus seinem Flügel die Mondscheinsonate erklingt, dann ist schnell vergessen, dass man die Mietzahlungen für die eigene Herrenboutique nicht mehr leisten kann, dass der ungepflegte After wegen des Toilettenpapiermangels juckt und dass Mutter auf der Intensivstation gerade erstickt. Alle Sorgen sind wie weggehustet und man kuschelt sich mit einem wohligen Gefühl ins »Daybed« (Zeit). Kein einziges Mal denkt man an die Gliedmaßen, die man verlor, weil ein Autofahrer mit dem neu eingerichteten Pop-up-Rad-weg nicht einverstanden war. Kein Gedanke wird verschwendet an den winselnden krebskranken Hund im Flur, dessen Fell gerade an einer Kerze Feuer gefangen hat.
Sanft umschlungen von einer Klangdecke, macht man es sich für einen kurzen Moment bequem. Es ist, als säße Igor Levit selbst mit einem im Wohnzimmer. Es ist ein gutes Gefühl. Denn Levit kann Nazis nicht ausstehen und die Natur ist ihm wichtig. Das ist die linke Grundessenz, auf die sich das neue grüne Bürgertum mit den interessanten Berufen und Brillen gerade so noch verständigen kann. Selbstbewusst hat dieses Milieu mit Levit endlich zur Musik seiner Eltern zurückgefunden. Man könnte sagen, Levit ist der musikbegeisterte Sohn, den Winfried Kretschmann und Dunja Hayali nie hatten. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie Levits Musik aus den Lautsprechern neben den seltenen skandinavischen Möbeln aus den Sechzigerjahren erklingt. Man würde die Blicke schweifen lassen; vom rechts oben hängenden Gemälde des Nachwuchskünstlers, den man so schätzt und der ein echter Geheimtipp ist, zum mittig ausgerollten Kunstdarm und dem Fleischwolf, mit dem man die veganen DIY-Chia-Kokos-Bio-Bratwürste herstellt.
Doch zusammen mit den Süßkartoffel-Pommes können diese nicht jedes Lockdown-Leid von jedermann oder jederfrau lindern. Das müssen sie auch gar nicht, denn nicht alle leiden gleichermaßen. Ein DHL-Bote kennt nur Pakete und keine klassischen Konzerte. Fallen Letztere aus, weiß er gar nicht, dass er gerade eine besonders virtuose Aufführung von Brahms Konzert Nr. 1 d-Moll für Klavier und Orchester op. 15 verpasst. Auch die Tortur des Homeoffice ist ihm unbekannt. Er muss sich nicht die Frage stellen, ob er die Flasche Rotwein schon um 14 Uhr oder doch erst lieber nach 16 Uhr öffnet. Der Glückliche!
Einem DHL-Boten wird der Spiegel aus diesen Gründen auch keine Langzeitreportage widmen und tiefe Einblicke in sein Gefühlsleben geben. Eine Reportage, in der man erschrocken liest, dass sich die Lockdown-Tage für Igor Levit anfühlen »wie Strampeln an der Oberfläche, als würde man sehr bald untergehen«. Und was noch schlimmer ist: »Er träumt von früheren Trennungen.« Man kann mitfühlen. Träume über Ex-Partnerinnen – es sind nicht enden wollende Schrecken, insbesondere wenn sie von der einen E-Molligen mit dem überdimensionalen Pferdegebiss und der Ü-Ei-Figurensammlung handeln. Was hat einen damals bloß geritten?
Früher, da trat Igor Levit überall auf, sogar im Dannenröder Forst für die Ökosekte Extinction Rebellion. Im Lockdown konnte er nicht mal zum Friseur. Das ist nicht nur in Berlin-Mitte eine Katastrophe. Und wenn sich die neuen Virusvarianten durchsetzen und Fluchtmutationen vor der Impfung bilden, muss Igor Levit all diese Qualen vielleicht noch einmal durchstehen. Das wäre eine humanitäre Katastrophe ungeahnten Ausmaßes. Werden dann wieder die Intensivstationen voll sein? Wird Levit gar wieder von seinen Trennungen träumen? Ob Hauskonzerte dann noch helfen werden? Oder muss doch wieder die Bundeswehr ran? Dieses Mal nicht mit unmotivierten Rekruten im Gesundheitsamt, sondern mit Liveübertragungen des Musikkorps? Das sind bange Fragen, die die Menschen gerade umtreiben. Die schlimmste Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg inklusive Nudelmangel und Geisterspielen in der Bundesliga ist noch lange nicht vorüber!
Aber man wird es schon irgendwie durchstehen. Denn wir haben Levit, einen »großen Künstler, der uns etwas über die Kraft der Musik vermittelt«. Das weiß nicht nur der Bundespräsident Frank-Walter Kraftmeier, nachdem er zweieinhalb Sekunden in der Kiste mit Feuilleton-Plattitüden gekramt hat. Und für diese ganze Kraft sollte man sich endlich offiziell bedanken. Ab heute Abend, 18 Uhr, bitten wir deshalb werktags um einen herzlichen Applaus von allen Balkonen des Landes! Igor Levit hat ihn sich redlich verdient.
ANDREAS KORISTKA