Die Poesie der kleinen Anarchisten
»Libbe Mama, dain Mülschrais is der besde aof der weld!«
»Wow, das hast du ganz allein geschrieben?«, frage ich, als mein Kleiner mir den bekleckerten Zettel überreicht. Natürlich ist das eine rhetorische Frage – er geht in die dritte Klasse, da kann man schon was erwarten. Aber mein Erstaunen macht das Wunder noch etwas größer.
Ja, es ist ein Wunder, wie virtuos er sich aus dem Sortiment der Lettern bedient, ohne die Dingerchen in ihrer feinen Differenziertheit – d und t und dt, ä und e und ey, leer und lehr – jemals ergründet zu haben. Er gibt sich ganz seiner Intuition hin, schwelgt in der Sprachmelodie – »Mülschrais«, was für ein Kuschelklang! – und lebt seine Stimmungen aus. In seiner Schriftsprache entäußern sich die vorherrschende Wetterlage, die Turbulenzen der Jahreszeiten, und meldet sich der Pups (»Buubs«), der ihm just im Bauch herumkollert.
Dieser Zettel – die reinste Poesie! Jedes Kind in seiner Klasse kann inzwischen so schreiben. Alle ihre Schützlinge, freut sich die Lehrerin, seien kleine Schreibanarchisten. Einen kleinen Anarchisten im Haus zu haben, macht auch mich stolz. Soll er doch diesem Scheißsystem den Mittelfinger zeigen, insbesondere dieser repressiven Grammatik, mit der der wilhelminische Obrigkeitsstaat hierzulande restauriert wird, dieser albernen Genitiv- und Dativ-Reiterei, mit der hierorts jedes Pflänzchen freiheitlicher Schriftsprache zu Tode gemobbt wird.
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weiter geht es in der EULENSPIEGEL-Ausgabe Nr. 11/2018 (Seite 30-31)
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