Die größte Vakuumröhre

Durch eine weiße Flügeltür betritt der Sibirische Tiger die Halle, ein blinkendes Band um den Hals. Sein Fell sieht aus wie frisch geleckt. Begleitet wird er von seiner persönlichen Assistentin und einem Techniker. Langsam, sich des bedeutenden Moments bewusst, bewegt er sich auf seinen Samtpfoten auf die in der Mitte der Halle aufgestellte Kapsel zu. Seine Assistentin und der Techniker bleiben einige Meter davor an einem Computerterminal stehen. Als der Tiger die kurze Treppe hinaufsteigt, die in die kreisrunde Öffnung der Kapsel führt, kann man ihn lächeln sehen. Er dreht sich noch einmal um, winkt den Anwesenden zu und verschwindet im Inneren. Lautlos schließt sich die Tür. Warnleuchten blinken an den Wänden. Eine Computerstimme beginnt den Countdown. Die Zuschauer – ein paar Journalisten, ein Dutzend Sponsoren sowie weitere Mitarbeiter – starren gebannt auf die Tür. »… drei, zwei, eins.« Zwosch! Kurz vibriert die Kapsel noch, dann ist es totenstill. Ehrfürchtig öffnet der Techniker die Tür und betritt die Kapsel. Als er wieder er – scheint, schleift er einen blutigen Klumpen aus Fleisch und Fell hinter sich her über den Hallenboden. Einige können sich ein enttäuschtes »och, Menno« nicht verkneifen. – Der Traum, einen Tiger auf den Mond zu beamen, bleibt vorerst ein Traum.

Elon Musk, die treibende Kraft hinter dieser technischen Entwicklung, scheint die Enttäuschung jedoch nicht zu teilen, als er die Halle betritt. »Schade um den Tiger«, sagt er nur und hebt den verschmorten Klumpen am Schwanz ein wenig hoch. »Was kostet der?«, will einer der japanischen Milliardäre unter den Sponsoren wissen. »Für dich 400 000 Dollar, du zoophiler Idiot!«, sagt Musk in seiner typisch uncharmanten Art und zeigt sein verstörendes Nerd-Lächeln. Eine Paypal-Überweisung später zieht ein über das ganze Gesicht grinsender Japaner einen Tiger-Rest hinter sich aus der Halle. »Ein kleiner Rückschlag«, gesteht Musk, »aber das Tiger-Beamen ist auch nur ein kleines Nebenprojekt, das mir gestern beim Frühstück eingefallen ist.«

Elon Musk – der Legende zufolge wurde der größte Visionär unserer Zeit 1975 als Sohn seines eigenen Klons aus der Zukunft und einer Hausfrau in Südafrika geboren. Schon mit 14 Monaten entwickelte er fast ohne fremde Hilfe eine für ihn revolutionäre Fortbewegungs-Art, die er, als er ein Jahr später seine eigene Sprache entwickelt hatte, »Fliegen« nannte. (Leider stellte sich heraus, dass Leonardo da Vinci Jahrhunderte zuvor die mehr oder weniger selbe Idee hatte, die sich in der Zwischenzeit als sogenanntes Gehen auch beinahe flächendeckend durchgesetzt hatte.) Mit acht Jahren schrieb er sein erstes Computer-Programm, mit elf bas – telte er eine raketenbetriebene Buchstütze, mit 24 entdeckte er das andere Geschlecht. Ein Macher seit seiner Geburt. Er gründete den Online-Bezahldienst Paypal, verkaufte die Firma und investiert seitdem in Projekte, die, so Musks Vision, in naher Zukunft der Menschheit den Arsch retten werden.

Seine Firma »The boring company« möchte alle Städte untertunneln und den gesamten Verkehr unter die Erde verlegen, eine weitere Firma arbeitet daran, Menschen mit über 1000 km/h in Vakuum-Röhren durch die Gegend zu schießen, und seine Firma »Tesla« baut Elektro-Automo – bile, die in vier Sekunden von null auf hundert beschleunigen. Sollte das alles nicht genügen, um den Planeten zu retten, hat Musk natürlich einen Plan B: die Besiedlung des Mars. »Tiger nehmen wir freilich nicht mit, die sind viel zu gefährlich. Daher der Plan, die Biester zum Mond zu beamen«, erklärt der Visionär.

Zusammen mit seiner Assistentin und dem Techniker führt Musk die Besucher zur nächsten Vakuum-Röhre, mit der alle Anwesenden in gut fünf Minuten in die 100 Kilometer entfernte Produktionshalle von Musks aktuell wohl spektakulärstem Projekt gelangen.

Als drei Stunden später alle Brüche und Quetschungen der Röhrenreisenden einigermaßen versorgt sind, präsentiert Musk dort »die Schnittstelle«. »Das Smartphone war der Anfang der Erweiterung des menschlichen Geistes: größere Speicherkapazität, Zugriff auf schier unendlich viel Wissen, Tetris«, doziert der Meister, »der nächste Schritt ist die biologische Verknüpfung mit der Maschine. Bevor die Künstliche Intelligenz uns alle tötet – und das wird unweigerlich passieren –, müssen wir selbst zur Künstlichen Intelligenz werden.« Musk präsentiert eine Baseball-Mütze, aus der ein paar Kabel hängen: die Schnittstelle. Mit ihr lassen sich sämtliche Neuronen des Gehirns auf einem externen Medium nachbilden. »Das war ein hartes Stück Arbeit«, sagt Musk. »Die Technik war schnell produziert, aber das Ganze in die Form einer optisch ansprechenden Mütze zu bringen, hat über fünf Jahre gedauert.«

Um die Möglichkeiten der Technik zu demonstrieren, führt Musk seine Besucher zu einem Käfig, in dem ein Tiger liegt. Mit geübten Griffen setzt Musks Assistentin dem Tiger eine Mütze auf, dann gibt Musk seiner eigenen Mütze den Befehl zur Datenübertragung, und nur wenige Minuten später begibt sich ein weiterer Tiger mit Musks dupliziertem Geist in die Röhre, um den nächsten Beam-Versuch zu starten.

Die Besucher drücken ihm die Daumen und sind gespannt, was Elon Musk oder zumindest ein musk-beseelter Tiger noch alles an technischen Zaubertricks aus der Baseball-Mütze ziehen wird. »So! Was mach ich jetzt?«, ruft Musk. »Ich weiß: Ich schicke eines meiner Autos mit einer Rakete in die Erdumlaufbahn.« Doch seine Assistentin hat Einwände: »Hast du bereits gemacht. Noch mehr Autos da oben, und wir haben einen Stau.« »Ich bin wohl ein wenig müde heute«, gesteht Musk und kratzt sich an seinem erstaunlich großen Hinterteil, gegen das er offensichtlich noch nichts erfunden hat. »Ich hatte seit über zwei Minuten keine neue revolutionäre Idee.« Er nimmt eine Batterie aus einer Kiste, leckt daran und wirkt auch sofort frischer. »Heureka!«, ruft Musk begeistert. Was wird sein neuester Coup sein? Schnellere Drehtüren in Einkaufszentren? Ein raketenbetriebenes Heilmittel gegen Krebs? Oder gar ein Elektro-Auto, das nicht wie der Tesla von seinem Hersteller jederzeit ferngesteuert werden kann? – Wir werden es bald erfahren.

Gregor Füller
Zeichnung: Frank Hoppmann