Übertriebene Erwartungen

Die Sorgen und Nöte der Bürger verstehen

Von MATHIAS WEDEL

In Sonnenberg herrscht dicke Luft. Bist du Reporter? Dann musst du mit Schlägen rechnen. Nicht weil Nazis gern mal hinlangen (wahrscheinlich ein Vorurteil), sondern einfach so.

»Die von der Presse brauchen sich hier gar nicht mehr blicken lassen«, ruft ein rotgesichtiger Mann, »die schreiben ruff und nunner, dass wir hier alle Nazis sind. Fehlt nur noch das KZ! Erbärmlich ist das, er-bär-mlich!«

GUIDO SIEBER

Die Leute am Gemüsestand heben witternd die Köpfe. »Kamera runter!«, kreischt eine Frau, denn dem MDR ist auch nicht mehr zu trauen. Ein Mann, der seinen Hund beim Pinkeln fotografieren wollte, steckt schuldbewusst das Handy weg. »Alle ein bisschen nervös hier«, murmelt er.

Das KZ fehlt allerdings wirklich noch in der Struktur des Landkreises – nur eines der kreislichen Entwicklungsdefizite, die infolge der glänzend gewonnenen Landtagswahl plötzlich offensichtlich werden. Erst einmal müssen nämlich alle Unterkünfte für die »Asylis« fertig werden, da sind dem Sesselmann die Hände gebunden. Er ist eben nur Landrat und nicht Gauleiter von Thüringen, sorry, dazu hat’s einfach noch nicht gereicht.

Warum alle so aufgeregt sind, frage ich einen Mann, der seine Zigarette im Handteller versteckt wie ein Zwölfjähriger, der beim Rauchen erwischt wird. »Die Medien«, sagt er, »die wecken alle viel zu hohe Erwartungen.« Nach einer Wahl gäbe es doch üblicherweise 100 Tage Schonfrist, sagt er, »aber von uns Sonnebergern wird verlangt, dass wir aus dem Stand die perfekten Nazis sind, von Null auf Hundert, Bilderbuchnazis. Aber das sind wir noch lange nicht, das müssen wir selbstkritisch einräumen.«

Weiter geht es auf 3 Seiten im EULENSPIEGEL Ausgabe 08/2023

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