Erstens, zweitens, drittens

Bei »Hart aber fair« hockt man verbarrikadiert hinter einem Tresen. Ich sitze bereits, Professor Herfried Münkler ist noch in der Maske und Hajo Schumacher lärmt noch zwischen den Zuschauern. Plasberg stürmt ins Studio, streckt mir zähnebleckend die Hand entgegen und wünscht uns allen eine tolle Sendung. Alle lachen. Der Vorspann läuft auf den Monitoren. Neben mir lässt sich im letzten Moment jene Schriftstellerin in den Stuhl fallen, die – wahrscheinlich wegen ihrer extravaganten Hässlichkeit – oft in solchen Sendungen sitzt. Es geht los, Plasberg sagt was und spielt – »Schauen Sie mal!« – was von seinem Touchscreen ab. Hajo Schumacher sagt auch was, es ist lustig, denn alle lachen. Der Körper der Schriftstellerin löst sein Notprogramm aus und beginnt zu transpirieren.

Zeichnung: Peter Muzeniek

Plasberg brüllt plötzlich: Herr Wedel ist der Ostdeutsche in unserer Runde! Und der Thüringer, sage ich. Alle lachen. Herr Wedel, ruft Plasberg, können Sie das überhaupt noch hören, dieses ostdeutsch und westdeutsch? Alle lachen, das Publikum applaudiert. Professor Herfried Münkler schnappt den Mund auf und zu und sagt etwas. Herr Wedel, sagt Plasberg, wird uns jetzt erklären, warum die Thüringer einen ausgemachten Nazi wählen. Alle lachen. Drei Gründe, sage ich, und erstens, sage ich noch. Doch dann weht mich etwas kühl an, als ob irgendwo eine Tür offensteht, ein unguter Hauch von unten her. Ich registriere, dass ich vom Gürtel abwärts nicht bekleidet bin, aber beide Socken und Schuhe anhabe und auch eine farblich zu den Socken passende Krawatte trage. Irgendwas muss in der Garderobe zu schnell gegangen sein. Also erstens, sage ich, wissen wir Ostdeutsche genau, womit wir die Besatzungsmacht auf die Palme bringen können, und viel mehr Möglichkeiten zur Sabotage haben wir ja nicht. Ho, ho, rüpelt Hajo Schumacher dazwischen, Professor Münkler sagt, gerade in solch einer historischen Situation sollten wir nicht in hedonistischer Leichtfertigkeit die falschen Worte wählen, denn so hat es 1932 auch angefangen.

Professor Münkler, ruft Plasberg, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das sagen. Jetzt nur nicht provozieren lassen, denke ich, es ist ja nicht das erste Mal, dass du ohne Hose unterwegs bist, zum Beispiel warst du ohne Hose schon Teilnehmer beim Rennsteiglauf 2009, saßest in einem dottergelben Sessel bei Anne Will (Thema »Ticken die Ostdeutschen anders?«) und weiltest frohgemut unter Leuten bei Roland Kaiser auf den Dresdener Elbwiesen. Und weil uns das Demokratiegeschwätz, das täglich über uns hereinbricht, dieses konsensuale Gesumse einfach auf die Nerven geht, sage ich. Und zweitens, fragt Plasberg lauernd. Zweitens sind wir alle in der Wolle gefärbte Rassisten, nicht nur wir Thüringer, aber wir besonders. Der Rassismus ist uns in die DNA eingeschrieben, seit wir Jäger und Sammler waren. Eine Jägerundsammlerhorde, die das Fremde nicht rasch identifizierte, war verloren. Aber wir sind gemütliche Rassisten, Bratwurstrassisten, allerdings desto ungemütlicher, je hügeliger die Landschaft wird, und wo sie ins Erzgebirge ausläuft, wird’s auch mal krass. Wir hassen, was anders ist. Zum Beispiel wenn es normal ist, zwei Füße zu besitzen, aber jemand kommt daher und besitzt nur einen Fuß – der kann gleich wieder gehen, da muss er gar kein Moslem oder Jude sein. Und drittens, sage ich, aber die Schriftstellerin sagt, sie müsse jetzt aber mal widersprechen. Ich glaube, sie hat bemerkt, dass ich untenrum nackt bin, sie guckt herablassend an mir herunter. Es ist mir aber egal. Wenn sie hübsch wäre, wäre es mir nicht egal, aber sie ist nur talentiert. Moment, ruft Plasberg, wer erstens und zweitens sagt, muss in einer lebendigen Demokratie auch drittens sagen dürfen! Drittens, sage ich, können wir uns nicht verzeihen, dass wir dem Kohl und dem Waigel auf den Leim gegangen sind und hauen uns mit dem Höcke selber in die Fresse. Oho, ruft Hajo Schumacher, hier kommt eine freudsche Projektion ins Spiel – Selbstbestrafung aus Hass auf den Übervater wegen des Onanierverbots! Alle lachen. Professor Herfried Münkler sagt, das habe es schon im Dreißigjährigen Krieg gegeben. Brigitte Büscher kommt herein mit den Leserbriefen, die sie von einer Wand ablesen wird. Sie ist offenbar vor der Sendung geschlagen worden und blinzelt mir verschwörerisch zu, die zärtliche Solidarität der Abgehängten. Sie liest: Eine Mizzi aus Neustadt/Orla schreibt uns per Mail, als Ostdeutsche schäme ich mich für Herrn Wedel, dass er so in der Sendung sitzt. Ich will aufspringen und mir verbitten, dass man uns Thüringer im dreißigsten Jahr der Einheit immer noch allein nach unserem Äußeren beurteilt. Aber ich beherrsche mich.

    Anzeige

Wir haben nur noch wenige Minuten bis zu Caren Miosga von den Tagesthemen, sagt Plasberg. Herr Wedel, wir wissen, es ist eine geheime Wahl gewesen, aber wählen Sie denn auch extrem rechts, will Plasberg wissen. Nein, sage ich, extrem links. Ha, die Linke, schreit Hajo Schumacher. Die hat der Bodo Ramelow ja nicht einmal mehr mit auf die Plakate drucken lassen. Das war auch überhaupt nicht nötig, entgegne ich spitz. Die Linke, in ihrer Behaglichkeit, demokratischen Schaffensfreude und Harmlosigkeit ist doch dem Ramelow sozusagen auf die Stirn geschrieben. Ich wähle seit zwanzig Jahren Kommunisten. Wenn keine Kommunisten auf dem Zettel stehen, verbrenne ich ihn regelmäßig öffentlich auf den Stufen zum Wahllokal und rufe dabei: Wählt Thälmann, Liste 3! Die Gemeinde ist das schon gewohnt und stellt mir immer einen Feuerwehrmann zur Seite. Die Schriftstellerin wendet sich zu mir hin und sagt: Respekt, Herr Wedel! Sie ist plötzlich bezaubernd schön und duftet vor Erregung ambrosisch aus allen Poren. Sie legt ihre Hand auf mein nacktes Dickbein und lässt sie dort liegen, so dass es mir sofort ein Loch ins Fleisch brennt.

Dieser Schmerz! Davon wache ich natürlich auf. Ruheständler, las ich kürzlich in der Apothekenzeitung, sollen sich sofort beim Aufwachen laut das aktuelle Datum aufsagen, als Test ihrer geistigen Fitness. Heute ist ganztägig Mittwoch, der dreißigste Oktober zweitausendundneunzehn, sage ich, ein wundervoller Tag – ich habe einen Termin beim Urologen!

MATHIAS WEDEL