Das Recht des Fremden

Im oberbayrischen Altötting wurde eine Busfahrerin zu einer Geldbuße von 500 Euro verurteilt. Sie hatte einen elfjährigen Jungen geschubst und als »Saubär« bezeichnet, weil er seine Schuhe nicht von der Sitzbank nehmen wollte. Das Urteil hat zu breiter Verunsicherung geführt. Wo man bisher den Eindruck hatte, dass es gesellschaftlich erwünscht ist, dass Passanten ihren Anteil zur Erziehung fremder Kinder beisteuern, scheint der Gesetzgeber in dieser Hinsicht doch eher zu bremsen. Der EULENSPIEGEL-Erziehungsratgeber erklärt an konkreten Beispielen, wie Sie bei unerwünschtem Verhalten von fremden Nachwuchs erzieherisch intervenieren, ohne sich strafbar zu machen:

EGON FOREVER

Die U-Bahnfahrt

Ein dreijähriges Kind sitzt in einer U-Bahn und belästigt eine Dame. Erst starrt es die Frau nur an. Später folgen schwer verständliche Verwünschungen und Handgreiflichkeiten seitens des Kindes. Die anderen Fahrgäste schauen beschämt weg. Schließlich berührt das Kind die Frau sogar unsittlich mit dem Mund an der Brust und nuckelt an ihr herum.

Normalerweise gebietet es die Zivilcourage, in solchen Situationen einzugreifen. Man könnte andere Fahrgäste auf das Geschehen aufmerksam machen, die Polizei rufen oder die Notbremse des Zuges betätigen und den Zugführer über das Notrufsystem informieren. Oft helfen auch ungewöhnliche Verhaltensweisen, um Täter zu verwirren. So könnte man zum Beispiel laut singen, eine Krankheit vortäuschen oder das eigene Milchmixgetränk anbieten, um das Täterkind abzulenken und damit davon abzuhalten, die Frau weiter zu belästigen.

Aber Obacht! Das Oberlandesgericht Köln hat in einer richtungsweisenden Grundsatzentscheidung im Februar 2021 klargestellt, dass Kinder mit besonders guten Anwälten in diesen Fällen Schadensersatz geltend machen können. Deshalb empfiehlt es sich, von solchen Maßnahmen abzusehen und stattdessen mit fester Stimme in der Mitte des Abteils lautstark darüber zu dozieren, dass Langzeitstillen dafür sorgt, dass straffe Brüste zu schlapp herabhängenden Gartenschläuchen degenerieren. Dann gilt es zu hoffen, dass das Kind schuldbewusst von seinem Opfer ablässt.

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Bitte und Danke

Auf seiner Geburtstagsfeier bekommt Ihr fünfjähriger Neffe Sanchez-Florian ein hochpreisiges Lego-Set von Ihnen geschenkt. Doch statt sich artig zu bedanken, schaut er, vom vielen Ritalin benebelt, teilnahmslos durch seine Schweinsäuglein, schweigt und sabbert ein bisschen vor sich hin.

Für solche Momente hat unsere Gesellschaft eigentlich tradierte Lösungsmöglichkeiten zur Hand. »Einen Satz warmer Ohren verpassen«, »ein paar hinter die Löffel geben«, »einen Fett-Tsunami durch die Wackelbacken treiben« … Nicht umsonst gibt es im Deutschen über 1000 Synonyme für die gute alte Ohrfeige. Die Jahrtausende alte Schlagtechnik wird 2023 sogar als immaterielles Weltkulturerbe der UNESCO ausgezeichnet. Aber Vorsicht, nicht immer ist sie legal, wenn man sie zu Erziehungszwecken an fremden Kindern einsetzt! Oberstes Gebot ist daher: Sie muss nach Notwehr aussehen. Als hilfreich haben sich verbale Provokationen erwiesen (»Paw Patrol ist eine grenzdebile Zumutung mit einem unterirdischen Storytelling und flachen Charakteren. Man wird beim Zuschauen abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht.«)

Man muss sich sicherlich etwas bemühen, aber stürmt Sanchez-Fabian aufgebracht auf den Provokateur los, gilt es, mit kühlem Kopf die eigenen Reichweitenvorteile zu nutzen, um den Heranwachsenden moralisch und sittlich wieder auf Linie zu bekommen. Eigentlich sollte er sich auch dafür bedanken.

Das klärende Gespräch

Gudrun D.s Bekannte Samira H. hat eine zweijährige Tochter namens Elsbeth. Jeden zweiten Dienstag im Monat treffen sich die drei zum Kaffeetrinken. Damit sich Elsbeth nicht langweilt, reicht ihr Samira Stifte und Papier. Leider hat es sich das Kind zur Angewohnheit gemacht, mit den Stiften sämtliche Wände zu beschmieren. Als Gudrun D. Elsbeth deshalb einmal vor dem Kaffeetrinken präventiv in Klarsichtfolie einrollen wollte, damit sie nicht mehr die Stifte führen kann, beschwerte sich Samira, dass dies nicht kindgerecht sei und Gudrun dies deswegen lassen solle.

Deshalb hat Gudrun nun das Gespräch gesucht. Und zwar mit der zuständigen Mitarbeiterin des Jugendamtes. Dieser berichtet Gudrun nun anonym am Telefon häufig von frisch ausgedachten Missständen im Hause ihrer Bekannten. Teilweise tut sie es mehrfach täglich mit unterschiedlich verstellten Stimmen. Auch ihren Mann, ihre Schwiegereltern und ihren ehemaligen Fahrlehrer konnte sie überzeugen, ein paar Mal in der Woche dort anzurufen. Die Situation dürfte nun bald für alle Beteiligten bestmöglich gelöst sein. Gudrun kann wieder unbeschwert die Treffen mit ihrer Freundin genießen und Elsbeth darf die Wände in einem Kinderheim anmalen.

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Ein Appell an die Vernunft

Im Hinterhof eines Berliner Mehrfamilienhauses spielen oft die Nachbarskinder. Mitunter geht es dabei etwas laut zu, was auf das Missfallen des rechtschaffenen Bewohners des Erdgeschosses Andreas K. stößt. Natürlich wäre es für K. ein leichtes, die Kinder mit einem Luftdruckgewehr zu beschießen, aber vor Gericht und auf Hoher See ist man bekanntlich in der Hand von gefühlsgeleiteten Kinderverstehern. Gut möglich, dass ein Gericht K. wegen angeblicher Körperverletzung verurteilen könnte.

Also hat sich K. etwas Besseres ausgedacht. Er versucht, die Kinder auf der Höhe ihrer kognitiven Fähigkeiten abzuholen und mit Sachargumenten zu überzeugen. Er tritt rhetorisch geschickt und selbstbewusst auf, wenn er ihnen darlegt, dass er den Weihnachtsmann entführt hat, der nun gefesselt und geknebelt in K.s Schlafzimmer sitzt. Wenn er noch einen Mucks über Zimmerlautstärke im Hof hört, dann erschießt er das dumme Schwein. Dann war’s das mit Geschenken, verstanden?! Dann gibt es zum Fest höchstens Weihnachtsblutwurst im eigenen Darm und den Osterhasen schlachte ich auch noch ab. Habt ihr das verstanden, ihr elenden Missgeburten! Und wenn ihr davon auch nur ein Wort euren Gentrifizierer-Eltern erzählt, dann ist die Zahn-Fee auch noch dran!

Da es sich bei den potentiellen Mordopfern um fiktive Personen handelt, gibt es hier keinen Spielraum für juristische Schritte gegen K. Deshalb triumphiert er im Sommer auf seinem selbst aufgestellten Liegestuhl neben dem Sandkasten und genießt die herrliche Ruhe.

ANDREAS KORISTKA

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