Am Arsch

Gelbe Rotze? Grüne Rotze? Rotze, die, in der Petrischale unterm Mikroskop begutachtet, von Amöben beiderlei Geschlechts nur so wimmelt? Oder ist das morgendliche Sekret schon glasklar wie Quellwasser?

Jeden Tag das gleiche Spiel: Die Rotzefrage als Wasserscheide für Bildung oder Bildungsferne, für Karriere oder Dahindämmern als Muttertier zwischen Kühlschrank, Herd und Kloschüssel, für fettes Einkommen oder Auskosten des Dispokredits.

Kranke, also »verrotzte« Kleinkinder zwingen Eltern ins endlose Homeoffice und die Großeltern zu fürchterlichen Notlügen (»Können die Kinder diese Woche nicht nehmen, sterben selber gerade. Aber vielleicht am Wochenende.«). Der Schlüsselsatz heißt dann: »Na gut, wir nehmen sie. Aber du wirst schon sehen, es ist vielleicht das letzte Mal …«

Johann Mayr

Deutschlands Kinder, ganz gleich ob mit syrischem, ukrainischem oder anhaltinischem Hintergrund, sind »in dieser Grippesaison« so krank wie noch nie. Die Grippesaison ist der verlogenste Euphemismus, noch verlogener als die »panzergestütze Friedensoffensive«. »Grippesaison« klingt nach dem letzten Schrei im Modezirkus, den heißesten Filmen der Saison und den aufregendsten Mixgetränken. Neben der wahnwitzigen Grundsteuerkampagne des Finanzministers, dem 49-Euro-Ticket und dem Überlebensbonus für Studenten, die praktisch nie in der Uni gesehen werden, treibt die diesjährige Grippesaison das Vaterland in den Ruin.

Was krank bedeutet ist relativ, finde ich. Jedenfalls sollte man nicht alle Kranken über einen Kamm scheren. Letztlich ist nur der Tod ein sicheres Indiz, dass gesundheitlich was nicht gestimmt hat. Unsere Kleine ist noch 95 Jahre davon entfernt und eigentlich erst so richtig eine Frohnatur mit vierzig Fieber. Sie singt die Kindergartenlieder mit Choreographie und Zweitstimme, statt lethargisch auf der Couch zu lümmeln, wie es sich für ein Wesen mit ihrem Befund gehört. Mit einer kleinen Dosis Fiebersaft kommt sie richtig in Fahrt. Dann zählt sie bis Hundert und malt Porträts berühmter Pianisten.

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Warum sollte dieses Kind nicht in den Kindergarten gehen? Das Virus kommt doch von dort, da kann es doch auch wieder hin! Mit den Kindergartenschließungen haben wir das Corona-Virus auch nicht wirklich bekämpft, sondern nur zu Oma und Opa getragen. (Lauterbach sagt, das sei kein Grund, um Verzeihung zu bitten, weil er es nicht besser wusste. – Der alte Verfassungsgrundsatz, »Alles kann man verzeihen, nur Dummheit nicht«, gilt also auch nicht mehr.) In der Kita hat doch das Virus viel mehr Möglichkeiten, unsere Tochter für ein vielleicht noch netteres Kind zu verlassen! Leider hat die Kita strikte Regeln, mit Fieber kommt man da nicht rein. Der Trick, das Kind morgens mit Fiebersaft zu dopen und als »gesund« in die Aufbewahrungsanstalt zu schieben, fliegt spätestens beim Mittagsschlaf auf. Da hustet es die anderen wach, die womöglich an akutem Mittagsschlafmangel erkranken. Dann der zynische Anruf: »Ihre Kleine, Frau von Senkbeil, möchte abgeholt werden und versteht gar nicht, wieso sie mit akuter Rhinitis in die Kita gebracht wurde.«

Und nun ist der Fiebersaft auch noch so kostbar wie Goldstaub geworden. Was sage ich – so kostbar wie Butter für vier Euro das Stück. Eltern beauftragen ihre Haschisch-Dealer, Ibuprofen und Hustensaft aus Holland zu besorgen. Das Zeug wird in Hinterzimmern gehortet und auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Junge Mütter, die die DDR nicht kennenlernen durften, nehmen die Antwort des lüsternen Apothekers, »das ist Bückdich-Ware« wörtlich, und opfern sich für die vage Aussicht, ein Fläschchen aus Restbeständen abzugreifen.

So kann es nicht weitergehen, fanden wir, die Eltern der Kita »Kiez-Käfer« und trafen uns zu einem Sonderelternabend, online, und ausdrücklich ohne Protokoll und Tonaufzeichnungen. Verzweifelt schilderten die Mütter ihre Lage. Dass Pilates-Kurse abgesagt werden mussten, die Haare und Nägel »seit einer gefühlten Ewigkeit« nicht mehr genug Pflege bekämen und eine regelmäßige Erwerbstätigkeit eigentlich tagsüber ausgeschlossen sei – nächtlicher Broterwerb sich wiederum aus moralischen und hygienischen Gründen verbiete. Die Wohnungen röchen nach Fencheltee und müssten ständig auf 23 Grad beheizt werden, was nicht im Sinne von Robert Habeck sein könne, den man ja aber gewählt habe, um seinen Anweisungen Folge zu leisten. Die meisten Väter exilierten dauerhaft in ihre Büros, die fiebernden Kleinen würden zum Sandmann »Papa« sagen. Von den Nächten mit vollgekotzten Kopfkissen und den vielen Stunden, verbracht in der Warteschleife des Kinderarztes oder frierend und bettelnd vor einer Not-Apotheke, wollten sie gar nicht erst reden.

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Wir machten einander Mut mit Sätzen wie »Das Immunsystem will lernen« oder »Kinderkrankheiten sind die Schutzschilde fürs Leben, besonders vor Altersdemenz«. Auch das Verfassen eines Leitfadens zur Abhärtung (kalt duschen, rohe Leber mit Traubenzucker essen, Knoblauch lutschen und Frühsport im Schnee) brachte wenig, vor allem keine Erleichterung. Was konnten wir tun? Die Kita verklagen auf Betreuung kranker Kinder bis 39,5 Grad Fieber? Oder die Einrichtung einer Rotznasengruppe fordern?

Nach dreistündiger Diskussion, während der unsere Kinder hörbar in ihren Bettchen mit dem bösen Husten kämpften, schrie unsere Elternsprecherin: »Wie immer – mit Kind bist du am Arsch!«, und trennte die Verbindung.

Recht hat sie. Aber das muss man auch mal sagen: Den Kleinen die Nase putzen, Milchreis kochen und im Bett Geschichten vorlesen, ist doch mindestens so erfüllend wie arbeiten. Außerdem bekommen Eltern ja auch etwas dafür: ein ausgelastetes, gut trainiertes Immunsystem.

FELICE VON SENKBEIL

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