Die Fingerlesrigkeit

SCHICKSALE

Wenn der kleine Schulstarter(1) die ersten Silben oral entbindet, schwitzt der Papa vor Stolz und der Oma werden die Augen feucht! So kann es weitergehen, sagen alle in der Sippe – Abitur, erstes und zweites Juristisches Staatsexamen, Abgeordneter, Bundeskanzler.

Doch dann, eine winzige geflüsterte Nebenbemerkung beim ersten Elterngespräch – »Ihr Kind liest mit dem Finger« – und für die Eltern bricht eine Welt zusammen!

tagesschau.de

Dem Umfeld des defizitären Individuums und diesem selbst steht jetzt ein langer, tränenreicher Leidensweg bevor. In der ersten Phase versuchen Mutter und Vater noch, das Unabänderliche zu leugnen: »Er macht das nur, um seine Lehrerin zu ärgern«, »Die Aufschrift ›Oreo-Kekse‹ hat er gestern auch ohne Finger gelesen.« Dann folgen Schuldzuweisungen: »Du wolltest doch kein Kondom benutzen«, »Der Kleine wehrt sich mit dem Finger, weil du so dominant bist«. Schließlich landet das Kind beim – auf zahlreichen Gebieten berühmten – Dr. Jakob Hein. Und was der sagt, fällt zu seinem Glück unters Arztgeheimnis.

Ein Mensch mit dieser Besonderheit – alle scheuen sich, das Wort »Behinderung« auszusprechen, nur der Opa mit seiner Frontallappendemenz nennt den Enkel »der kleene Bleede« – war noch im späten Mittelalter blutiger Korrekturversuche ausgesetzt (wir verzichten auf Details!). Der Zeigefinger galt als unrein (»Denunziantengriffel«) und wer mit dem Finger las, durfte nicht mal einen Meineid damit schwören. Noch furchtbarer erging es nur den Zungenlesern(2). Im Kaiserreich wurde der Zeigefinger des Fingerlesers unter dem Handteller mit einem Lederriemchen fixiert (später mit dem Klammeraffen), unter Himmler durften Fingerleser nicht in die SS. Unter Margot Honecker jedoch war es verboten, diese Kinder zu hänseln, denn sie wurden wegen des kräftigen rechten Zeigefingers frühzeitig für die Grenztruppen geworben.

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Heute hat dieses Leiden längst seinen Schrecken verloren, denn es gibt raffinierte Therapien und geschützte Arbeitsplätze im akademischen Mittelbau. Aber vor allem braucht es ein verständnisvolles Umfeld: In Gegenwart des Erkrankten(3) darf niemals der Zeigefinger erwähnt werden, schon gar nicht affirmativ. Das gilt auch für semantische Ableitungen wie »lange Finger machen«, »mit dem Finger auf jemanden zeigen«, »den Finger in die Wunde legen«. Aber Ablenkungen vom Zeigefinger wie »Du hast aber einen sehr schönen langen Ringfinger, das deutet nach neusten Studien und Karl Lauterbach auf Promiskuität hin, gratuliere!«, sind ausdrücklich erwünscht.

Würde man die Fingerleserei »laufen lassen«, wie die 68er unter den Pädagogen einst in stupider Unempfindlichkeit für das Leiden dieser Patienten empfahlen, zeitigte das eine schreckliche Folge – einen beidseitigen schweren Strabismus. D. h. die Augen wandern beim Lesen dem Finger hinterher nach rechts bis zum Zeilenende und bleiben schließlich dort wie angewurzelt stehen. Jeder kann sich vorstellen, wie das die Lebensfreude und schließlich auch die Lebenserwartung dämpft.

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Die Heranwachsenden leiden aber keineswegs immer unter ihrem Schicksal, sie sind in Ausnahmefällen sogar zu großen Leistungen fähig. So hat beispielsweis Glenn Gould als Teenager das wohl vorgewärmte Klavier mit nur neun Fingern zu spielen begonnen. Mit diesem seit Sigmund Freud berühmten Trick hat er gewissermaßen seinen Lesefinger »ins zehnte Glied zurückgerufen« und war fortan von der Fingerlesrigkeit geheilt. Wenn nicht, dann sagt sich der/die Betroffene eben »scheiß drauf«! Erst jüngst erreichten uns Bilder aus Amerika, wie ein Mann einer großen Meute mit dem Finger vorlas. Er wurde mit Ovationen gefeiert. Inhaltlich soll die Sache so lala gewesen sein, aber dass er sich das mit dem Finger getraute – Respekt!

MATTI FRIEDRICH

(1) Die Bezeichnung »ABC-Schütze« wurde von der Koalition Merkel/Scholz aus unverzeihlicher Friedfertigkeit gegenüber den Russen abgeschafft. (2) Aber das ist ein anderes Kapitel. (3) Die Psychologen sprechen von einer Erkrankung, weil das Leiden offenbar nicht angeboren ist, sondern erst nach der Einschulung manifest wird.

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