Niemals in den Wald scheißen!

Dramatisches Stöhnen drang aus dem Teenagerzimmer vom Südflügel unserer Wohnung. Ich dachte an die Strangulations-Challenge auf Tiktok – alles andere kam nicht ihn Frage, es war schließlich mitten am Tag und er war allein. Mit einem Tritt stieß ich die Tür auf und fand meinen Sohn am Boden liegend vor. Er wimmerte: »Nicht noch mehr, Pause, Pause.«

»Was hast du genommen?«, schrie ich ihn an. Er japste: »Wat willste? Ich trainiere!« Schon stand ich wieder vor der Tür.

Von da an erklangen diese Schmerzschreie täglich, dazu brüllte ein österreichischer Naturbursche Durchhalteparolen zu treibenden Technobeats. »Das muss brennen, los Junge, noch zehn, noch neun, noch …«

Diese Fitness-App ist nur was für harte Kerle, erklärte mir mein Sohn. Der Ösi ist sein Einpeitscher. Bestimmt war er als Fremdenlegionär in sämtlichen Kriegsgebieten der Welt im Einsatz. Am Ende jeder Trainingseinheit gibt er unverbindlich Tipps für Muskelaufbaushakes und Eiweißriegel.

Ich gebe zu, ich war beeindruckt von dem Trainingsprogramm meines Sohnes. Andere seines Alters suchen ihre Grenzen beim Dosenstechen, Kekswichsen oder Ladendiebstahl – mein Sohn stählt seinen jugendlichen Körper.

FREIMUT WOESSNER

Das kann nicht falsch sein. Starke Jungs haben bessere Chancen bei den Mädchen, als Türsteher genießen sie hohes Sozialprestige und können Mutti die Einkäufe hochschleppen. Dazu kam ein ausgeklügelter Ernährungsplan, den mein Sohn streng verfolgte. Statt Nutella und Bockwurst gab’s Magerquark und Haferflocken. Noch ein Grund zur Freude – da konnten sich die Erwachsenen mal einen edlen Tropfen in den Einkaufswagen stellen.

Als ich morgens bei meiner Leberkässemmel und dem Cappuccino mit Sahnehäubchen saß, kam der Knabe in die Küche gehechtet, zog sein T-Shirt hoch und brüllte: »Hier, fühl mal! Krass hart.« Tatsächlich zeichnete sich unter der weichen Kinderhaut eine muskulöse Hügellandschaft ab. Nun bekam ich Angst. Was wenn der Junge süchtig ist, was wenn er beginnt, Steroide zu schlucken oder statt des Führerscheins zum 18. Geburtstag sich Titan-Implantate für die Waden zu wünschen? Und was ist, wenn er mit seinem Panzerbauch versehentlich gegen die Anrichte stößt, in der das Bleikristall ausgestellt ist? Hat er keine anderen Herausforderungen im Leben? Was ist mit der Mathe-Olympiade oder wenigstens einem Schulabschluss? Habe ich zu wenig Leistung von ihm erwartet? War meine sanfte, geschlechterindifferente, zugewandte Erziehung etwa nicht aufregend genug?

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»Habe ich dich nicht zu einem selbstbewussten Jungen erzogen, der sich nicht auf seine Körperlichkeit reduzieren lassen muss und auch keine starke Fassade braucht, um emotionale Verletzungen abwehren zu können?«

»Hä? Was willst du, Mama? Ich kann jetzt nicht labern, muss trainieren.« Er riet mir, auch mal an mir zu arbeiten. »Von nüscht kommt nüscht.«

Aber ich will das nicht mehr. Mein Körper hat seine Pflicht getan und kann nun getrost expandieren und sich dem Sofa anpassen. Ich will was ganz anderes: meinen kleinen fetten Jungen zurück. Den, der vorm Handy hängt, sich mit Chips und Gummibärchen vollstopft und heimlich mal ’ne Cola trinkt.

Ich suchte Rat bei einem Freund. Thorstens Tochter ist auch fünfzehn und ein stilles Kind. In diesen Ferien durfte sie zum ersten Mal allein ins Ferienlager, Italien; Sonne, Strand und Stringtanga. Die Urlaubsgrüße seiner Kleinen zeigte mir Thorsten auf dem Handy. Wäre ich nicht ganz sicher, dass dieses Mädchen die stille Lina ist, würde ich Thorsten eine sehr heiße Chat-Beziehung mit einer billigen Schlampe unterstellen. Lina und ihre Freundinnen blickten mit sehr tiefen Dekolletees und sehr üppigen Augenbrauen und unnatürlich wülstigen Lippen (wenn Lippen blicken könnten) in die Kamera. Ihre Hintern, die gerne von unten fotografiert wurden, erinnerten an zum Bersten gespannte Mehlsäcke, die Münder an Pavianärsche. Wie die Rummelnutten, hätte meine Oma gesagt. Thorsten betrachtete das ihm fremde Weib mit Abscheu und löschte das Bild. Aber stündlich kamen neue.

Was war passiert im Ferienlager? Lina schrieb, dass sie nun endlich einen sinnlichen Kussmund habe, dank Aufspritzung. Die war viel billiger als in Deutschland und wurde gleich auf der Strandpromenade gemacht, neben dem Stand, an dem einem kleine Fische die Hornhaut von den Füßen fressen. Den Schmerz in der Lippe verglich sie mit zehn Wespenstichen auf einmal, aber voll okay. »Keine Angst, Papi«, schrieb Lina, »Silikon in die Arschbacken erst nächsten Sommer!«

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Thorsten und ich verstanden die Welt nicht mehr. Diese Kinder lieben nur sich selbst. Haben die denn gar keine Ideale? Kämpfen die nicht gegen den Klimawandel und kleben sich die Hände auf der A100 fest? Warum schreien sie nicht dem Aufrüstungskanzler ihre Wut ins Gesicht (»Bei der Rüstung sind sie fix, für die Bildung tun sie nix!«, haben wir gerufen)? Ist es eine atomwaffenfreie Welt nicht wert, sich vor irgendeiner Panzerschmiede von den Bullen verprügeln zu lassen? Warum ertragen sie Leid und Schmerz nur, um auszusehen wie Pornostars?

Dabei sind sie alles andere als leidensfähig. Lina heult schon rum, wenn sie mit dem Rücken zur Fahrtrichtung im Zug sitzen soll. Und mein Junge bekommt Schweißausbrüche, wenn er in den Wald scheißen muss.

Thorsten und ich bestellten uns eine Pizza und verbrachten den Abend auf dem Sofa mit den Instagram-Storys unserer Kinder, in der Hoffnung sie besser verstehen zu können.

Von den Peperoni schwollen meine Lippen an (die im Gesicht), eine ignorierte Allergie. Mein Arsch schien mir auch fetter als sonst zu sein. Thorsten zog sein ge -steiftes Hemd aus, es war heiß an diesem Abend, und ich konnte seinen vernachlässigten Bizeps bewundern. Dazu gab es Rotwein, und allmählich erreichten Primatensignale unsere Akademikergehirne.

Langsam verstanden wir – das ist also alles, worum es geht.

FELICE VON SENKBEIL

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