Die klare Kante in der Mitte

UNSERE BESTEN

»Gnaaaaaa!« Die Schmerzen, die der CDU-Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus erleiden musste, waren schier unerträglich. Er biss die Zähne zusammen. Damit sie besser an sein Fleisch kamen, hatte er seine ohnehin durchnässte Hose ausziehen müssen. Im Augenwinkel sah er das Chrom medizinischer Gerätschaften aufblitzen – Zangen, Skalpelle, Pinzetten. Doch er hatte sich vorgenommen, keine Angst zu zeigen. So wie er auch nach der Bundestagswahl keine Angst gezeigt und mit klarer Kante das wahre Wesen der designierten Regierung benannt hatte. Ein soziales Wünsch-dir-was seien die Pläne, hatte er öffentlich geäußert, ein soziales Füllhorn werde ausgeschüttet, kurz: Mit der rot-grün-gelben Koalition würde der Kommunismus Einzug halten in Deutschland.

Das Verdikt des baldigen Machthabers Olaf Scholz fiel ob dieser frechen Worte brutal und unmenschlich aus. »So jemand gehört eigentlich ausgebuht«, hatte Scholz verkündet. Und jetzt, keine zwei Wochen später, saß Brinkhaus im »Gulag« und spürte, wie ihm jemand die verbrannte Haut vom Oberschenkel zog.

Zeichnung: Frank Hoppmann

Bis vor kurzem hatte Brinkhaus als farbloser Langweiler gegolten, als Koma verursachende Trantüte, als dröge Nuss oder gar als sachlich. Doch das war er mitnichten. Er war lediglich ein Mann der Mitte. Im Zeitraffer rauschte sein Leben vor seinem inneren Auge vorbei: Abitur, Wehrdienst in der Generalfeldmarschall-Rommel-Kaserne, Wirtschaftsstudium und dann 2004 der vorläufige Höhepunkt: ein eigenes Steuerbüro. Sah so etwa das Leben einer Schnarchnase aus?

Vermutlich ja, Brinkhaus war sich da nicht sicher. Worin er sich aber sicher war: Er, Brinkhaus, war ein Mann der Mitte, und Merkel hatte die CDU ins Spektrum des Linksextremismus gerückt. Sie hatte Milliarden von Ausländern ins Land gelassen, und die verstopften jetzt alle mit ihren Fahrrädern die Berliner Straßen und brauchten zehn Minuten, um das Essen vom Chinesen an der Ecke bis an seine Tür zu bringen und glotzten ihn dann auch noch schief an, wenn sie statt Trinkgeld einen Vortrag darüber erhielten, wieso Trinkgelder beziehungsweise Zuwendungen Dritter ohne betragsmäßige Begrenzung im Rahmen des Dienstverhältnisses nach § 19 EStG für Arbeitnehmer zwar zum Arbeitslohn zählen, aber dennoch steuerfrei bleiben, sofern Bedienungszuschläge nicht explizit ausgewiesen sind. Wie hatte Merkel nur all diese Leute ins Land lassen können, die von Steuern und internationaler Rechnungslegung keinen blassen Schimmer hatten?!

2018 hatte Brinkhaus diesen Zustand nicht mehr ausgehalten. Fast neun Jahre hatte er bis dahin im Bundestag gesessen, immer genau in der Mitte, hatte sich ein bisschen um Haushalts- und Finanzpolitik gekümmert, seinen Fraktionskollegen die Steuererklärungen gemacht und sonst die Füße stillgehalten. Doch unter Volker Kauder war die CDU-Bundestagsfraktion mehr und mehr zu einer Herde Stimmvieh verkommen, die nichts weiter tat, als der Kanzlerin die Mehrheiten für ihre sozialistischen Spinnereien zu beschaffen. Aus purer Verzweiflung hatte Brinkhaus sich aus der Deckung gewagt, klare Kante gezeigt und Kauder in einer Kampfabstimmung um den Fraktionsvorsitz besiegt. Von da an war er der Kauder-Killer mit der klaren Kante, einer, mit dem in Zukunft noch zu rechnen war. Zahlreiche Balladen an den Wänden der Bundestagstoiletten besingen seinen Ruhm.

Doch um an diese Erfolge anzuknüpfen, musste er jetzt erstmal heil aus dem »Gulag« raus. Dazu musste er zunächst versuchen, nicht ohnmächtig zu werden. Nur nicht hinsehen! »So, Vorsicht, das brennt jetzt vielleicht kurz«, sagte der Arzt. Brinkhaus biss sich auf die Unterlippe und flüchtete wieder in seine Gedanken.

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Eigentlich war die Wahlschlappe der CDU genau das, was er gebraucht hatte. Als zukünftiger Oppositions-Chef konnte er bald zeigen, was er drauf hatte, konnte zeigen, wo der Bartel den Most holt und wo er für eine korrekte Branntweinsteuerberechnung und Abfindungsanmeldung auf Formular 1221 den Haken für die Steueraussetzung machen muss. Dann würden sie aufhören, sich über ihn lustig zu machen. Selbst in der Wikipedia standen nur Unverschämtheiten. Dort heißt es bis heute: »Brinkhaus ist seit 2010 mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Elke Tombach verheiratet und praktizierender Katholik.« – Praktizierender Katholik! Klar war er praktizierender Katholik. Jeden Abend beten, vor dem Essen dem Herrn für die guten Gaben danken, pünktlich nach Erledigung der Steuererklärung die Beichte ablegen – ja, all das tat er, und er tat es aus tiefster Überzeugung und aus Angst vor dem Höllenfeuer. Aber warum stellte man das in Zusammenhang mit einer elf Jahre andauernden kinderlosen Ehe? Eindeutig eine böswillige Anspielung auf das im Katholizismus vorherrschende Verhütungstabu: In seinem eigenen Wikipedia-Eintrag wurde er dargestellt als ein zölibatärer Schlappschwanz, als einer, der es nicht bringt als Mann. Dabei war doch schon sein extremer Haarausfall der Beweis für einen überschießenden Testosteronspiegel.

Um sich seiner Männlichkeit zu versichern, strich er mit der Hand über seinen Kopf und sah nach unten. Der Arzt hatte ein Pflaster über die verbrannte Stelle am Oberschenkel geklebt und nickte Brinkhaus aufmunternd zu. Sterben würde er also heute noch nicht. Sein Kampf ging weiter. Erleichtert zog er seine Hose wieder an, die ein Kellner die ganze Zeit unter einen Händetrockner gehalten hatte.

Als vor ein paar Wochen die Bundestagswahl gelaufen und für die CDU verloren war, hatte Brinkhaus in einem Moment der Erleuchtung und Klarheit versucht, die Junge Union aufzurütteln. Was die kommende Ampelkoalition da plane, »ist die strammste Linksagenda, die wir seit Jahrzehnten in Deutschland gehabt haben«, hatte er mit hochrotem Kopf vom Podium geschrien und dabei noch reichlich untertrieben, um die jungen Leute mit seiner klaren Kante nicht zu sehr zu erschrecken.

Doch wie zu erwarten, war ihm die innerparteiliche Konkurrenz danach in den Rücken gefallen. Laschet und sogar Merz hatten dieselben halbgaren Ergebnisse der Ampelsondierungen als »in Ordnung« beziehungsweise »beachtliches Papier« bezeichnet und damit ihn, Brinkhaus, wie einen durchgeknallten Hysteriker dastehen lassen. Ihn, die Mitte der Gesellschaft, die Stimme der schweigenden Mehrheit!

Dieser schweigenden Mehrheit wollte er zu ihrem Recht verhelfen, und sei es hier auf der Herrentoilette. Dem Kellner erklärte er, wie es unter einer Ampelkoalition ablaufen würde. Er hatte es auch schon der Jungen Union erklärt: »Allen wird alles gegeben.« Totalitarismus! Allen alles! Allen! Alles! Das war doch Wahnsinn!

Nur langsam beruhigte er sich wieder. Der Geschäftsführer des »Gulag« war untröstlich: »Herr Brinkhaus, es tut mir unendlich leid. Der Kellner, der die Suppe in Ihren Schoß geschüttet hat, wurde bereits gefeuert. Zum Glück war ja zufällig ein Arzt anwesend. Ich hoffe, das ›Gasthaus und Lieblingsort der Ampelkoalitions-Gegner‹ darf Sie weiterhin zu seinen Stammgästen zählen.«

»Natürlich, keine Sorge. Ich komme jederzeit gerne wieder ins ›Gulag‹.«

GREGOR FÜLLER