Was Marx nicht wusste

Als die Inzidenzien halb Thüringen, dazu viele alteingesessene Familien rund um Hof und fast alle Erzgebirgler, die noch »Rachermännle« schnitzen konnten, auszulöschen drohten, herrschte hierzulande erstaunliche Euphorie. Im Fernsehen setzte man sich mit drei Metern Abstand auf die Stühle, und die hellsten Köpfe der Nation schwärmten davon, wie schön das Leben sein werde, wenn alle – außer denen, die noch am Leben sein würden, tot sind: Das Scheißvirus, hieß es, sei die wunderbare Chance, alles noch mal »neu« und »viel schöner« – zunächst »zu denken« – und dann zu machen. Vor allem natürlich unsere an sich schon schmückliche Demokratie.

Wenn die Pandemie besiegt sein wird, hieß es, wird z.B. der Verkehr ganz anders sein, auch der Geschlechtsverkehr (mit Maske), die Kinder würden nie mehr den »Erlkönig« lernen müssen, sondern z.B. nur noch, wie man eine Playstation in Rückenlage und im Schlafanzug bedient, alle Hotelschiffe würden auf den Meeresboden versenkt – nur Hobbytaucher würden noch zum Käpt’nsdinner zugelassen –, und Politiker, die von Berlin nach Bonn flögen, würden über Helmstedt abgeschossen.

Einige sagten sogar: Bei einer Inzidenz über 200 sei der ganze Kapitalismus erledigt, definitiv! »Am Arsch«, sagten sie. Denn dass dieser uns das Virus eingebrockt hat (das ungeklärte Verhältnis der Profitmacherei zur Schaffung von Bienenweiden!), wird ihm kein Überlebender mit Long-Covid je verzeihen. Jetzt waren wir schon wieder unter Inzidenz 5, und nichts, so scheint es, hat sich geändert. Ein Typ aus vorpandemischer Zeit schickt sich an, nachpandemischer Bundeskanzler zu werden. Auch die SPD kraucht noch herum, als sei nichts gewesen. Und Helene Fischer arbeitet an einer neuen Platte.

Und doch, da ist etwas: Ein schwerer, schweißiger Geruch, ein Odeur nach Fuß -smegma und fauligem Atem, nach Mandelentzündung, nach lange nicht gewaschenen Hosen, nach auf Hemdkragen tropfendem Ohrenschmalz liegt über den Einkaufszentren, klebt in den »Öffentlichen« (dort gern auch Kotze süßsauer und Bierfäkalien). Das Wasser in den Schwimmbädern hat beständig einen Stich ins Schleimige. Angestellte, die ins Job-Center oder ins Gesundheitsamt eilen, stinken, als trügen sie faule Eier in ihren Dokumententaschen oder könnten den Urin nicht halten. In Theatern und Restaurants und beim Frisör stinkt es so infernalisch, dass immer häufiger die Rettung ausrücken muss, um Leute aus der Ohnmacht zu holen, indem sie ihnen Riechfläschchen mit »4711« unter die Nasen hält.

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Als erstes hat es der Spiegel bemerkt. Im eigenen Haus! Der Feldenkirchen, die Knöfel, der Weidermann. Die »Linken« in der Redaktion waschen sich nicht mehr, jedenfalls nicht mehr untenrum. In manchen Vorstandsetagen, konstatiert der Bund der Deutschen Industrie (BDI), stinken bereits bis zur Hälfte der Vorstände. Aber das ist noch gar nichts verglichen mit den Lohnabhängigen und anderweitig Leibeigenen: Durch das Homeworking haben sie sich daran gewöhnt, den Tag durchzustinken, zu »müffeln«, wie es das RKI vorsichtig in seiner Seuchenwarnung umschreibt. Geduscht wird gar nicht mehr. Ein Regenschauer, auf dem Balkon empfangen, gilt als Rundumwäsche für die ganze Familie. Den Kindern wird nicht mehr gelehrt, sich die Zähne zu putzen. Lassen sie sich zum Essen mit gewaschenen Händen zu Tische nieder, fühlen sich die Eltern provoziert (»Wir sind euch wohl nicht mehr fein genug, was?«). Hinzukommt eine herrliche, beinah orgiastische Verdreckung sämtlicher öffentlicher Plätze und Räume. Die TV-Sender werden mit Beschwerden eingedeckt: Werbung für jede Art von Seife, Putzmittel, Damenhygiene usw. ist ein Relikt aus einer Zeit, die wir nicht wieder wiederhaben wollen!

Was Marx nicht wusste: Hier regt sich die Revolte! Stinken zu dürfen, nach Herzenslust das System zu verpesten, das ist die Subjektwerdung der ausgebeuteten Kreatur. Nach Lenin ist der Kapitalismus bekanntlich ein »verfaulendes« System, es stinkt wie Aas – die Geknechteten stinken jetzt zurück.

Denn mit der Hygienediktatur – der Zwangs-Kanalisation in den Gevierten der Proleten – hat dereinst die Ausbeutung angefangen. Der Arbeitnehmer hatte gewaschen zu erscheinen. Die Hygieneregeln waren die Einübung von Demut. Nur der gesalbte Arbeiter durfte sich bei der Arbeit dreckig machen. Nur die geschminkte Tippse konnte mehr als Steno. Der Faschismus schließlich war eine reine Hygienemaßnahme. Heimatliebe + saubere Kragenbinde = Genozid.

Uns erreichen fröhliche Zahlen: Es fehlt nicht viel und die Hersteller von Seife für Haut und Haar, dieser unnützen Dinge mit den frühlingshaften Bezeichnungen und lächerlich verzierten Verpackungen, global aufgestellte Konzerne mit berühmten Namen, müssen beim Staat Nothilfe beantragen. Die Briten – England, die Wiege des Kapitalismus! – verbrauchen nur noch Wasser für ihren Fünfuhr-Tee.

»Wo soll das hinführen?«, fragt der Spiegel verzagt und halluziniert das Fürchterliche: »Vielleicht zu einem Neustart?«

Was hätte Marx dazu gesagt? »Stinker aller Gewerke, vereinigt euch!«

MATHIAS WEDEL