Überdenken von Rückzug

Goldene Worte von Gerhard Henschel

Erinnern Sie sich noch an eine Nachricht, die Ende letzten Jahres durch den deutschsprachigen Raum ging? »Trump-Vertrauter fordert Überdenken von Rückzug aus Syrien«, lautete sie. Gemeint war, dass Lindsey Graham, ein Vertrauter des US-Präsidenten Donald Trump, die Forderung erhoben habe, den geplanten Rückzug amerikanischer Soldaten aus Syrien zu überdenken. Aber war es sprachpolizeilich tatsächlich erlaubt, in diesem Zusammenhang von einer Forderung nach »Überdenken von Rückzug« zu sprechen? Hörte sich das nicht gar zu primitiv und höhlenmenschlich an? Wäre »Trump-Vertrauter fordert Überdenken des Rückzugs aus Syrien« nicht ein klein wenig eleganter gewesen? Denn Lindsey Graham hatte ja schließlich nicht den Rückzug der Truppen dazu aufgefordert, etwas zu überdenken.

Ich achte seither darauf, ob noch jemand anderes ein »Überdenken von« etwas fordert, doch alle Forderungen, die sich auf meinen Radarschirm verirrt haben, sind in noch fernerer Vergangen – heit erhoben worden: 2018 forderte der Deutsche Orthopäden- und Unfallchirurgen-Verband e.V. in Saarbrücken ein »Überdenken von Vitamin-D-Leitlinien«, 2016 forderte der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen e.V. ein »Überdenken von Baunormen«, 2013 forderte der Nürnberger Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker ein »Überdenken von Vorurteilen« gegenüber Zuwanderern, und 2000 forderte der Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider ein »Überdenken von Schengen«. Daran ist rein sprachlich nichts auszusetzen. Das Überdenken von Vitamin-D-Leitlinien, Baunormen, Vorurteilen und Schengen mag hingehen. Nicht aber die holprige Forderung nach einem »Überdenken von Rückzug«.

Und was halten Sie von der folgenden Meldung einer österreichischen Nachrichtenagentur? »Grüne fordern Überdenken von finanziellem Fass ohne Boden und Rechtsgrundlage« – ein schwieriger Fall, nicht wahr? Kann man ein Fass überhaupt überdenken? Oder ohne Boden und Rechtsgrundlage ein Überdenken von ihm verlangen?

Vielleicht sollten wir uns sicherheitshalber, damit keine Missverständnisse mehr aufkommen, von der Lautsprache verabschieden und nur noch Fäuste oder Blumen sprechen lassen. Es ist möglich, dass die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung dann ein Überdenken von Rückzug aus Sprache fordert. Vorher sollte das Präsidium der Akademie jedoch alle ihre Mitglieder fragen, ob sie jemals persönlich die idiotische Wortfolge »Überdenken von Rückzug« niedergeschrieben haben. Auf das Ergebnis dieser Umfrage dürfte man gespannt sein.

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