Konsum immer, Konsumscham nimmer!

VON PETER KÖHLER

Es ist Freitag, überall in Deutschland. Überall in Deutschland gehen an diesem Tag alle Schüler und Schülerinnen auf die Straße, um die heranwalzende Klimakatastrophe mit Pauken und Trompeten aufzuhalten. Doch mit Adam Riese gesprochen, sind es wirklich alle? Ohne die Reihen von A bis Z durchzählen zu müssen, steht die Antwort fest: Nein!

Die Erstklässler der Grundschule Kassel-Harleshausen sitzen brav an ihren Tischen und üben tapfer das Rechnen mit Zahlen. Manche verzweifeln riechbar an der schwer auf ihnen lastenden Materie, doch Kajal, die Klassenbeste, meldet sich sofort, als die Lehrerin fragt: »Wie viel ist ein Kleid und ein Kleid?« »Zwei Kleider!« »Gut, Kajal!«

»Gut? Das ist perfekt!«, versetzt die Kleine naseweis. Als Tochter einer Mutter, die in einer H&M-Filiale jobbt, kennt sie sich bis aufs i-Tüpfelchen aus. »Sie ist ihren Mitschülern im Lernstoff um viele Meter voraus«, weiß Klassenlehrerin Melisande Meier und gibt ihr deshalb oft eine Stillarbeit, damit die kleine Besserwisserin die Klasse nicht vorlaut stört: »Selbst schwierige Textaufgaben, die manchen Erwachsenen nass erwischen würden, löst sie bereits. Etwa diese: Ajola kauft bei H&M ein Halstuch. Es kostet 99 Cent. Ajola gibt der Verkäuferin an der Kasse 2 Euro. Wie viel erhält Ajola zurück?« – »2 minus 99 … das sind … ist doch egal!«, ruft der Reporter, schließlich wird so was doch vom stets gut geölten Kassenautomaten im H&M-Geschäft ganz von selbst ausgerechnet. Dass im Unterricht auf Schritt und Tritt der aus Schweden gebürtige und besonders in Deutschland weltweit aktive Textil-, Schuh-, Kosmetik- und Dekorationsartikelkonzern H&M auftaucht, ist kein nackter Zufall. Zwar wird die Grundschule nicht bis tief ins Mark von ihm gesponsert oder anderweitig korrumpiert. Aber das Lehrerkollegium macht in Abstimmung mit der Elternschaft und mit Genehmigung der simpel getackerten Schulbehörde endlich ernst damit, die Kinder vom ersten, noch jungfräulichen Schultag an auf die Realität einzuspuren und aus kleinen Menschen großformatige Konsumenten zu formen.

Weiter geht es im EULENSPIEGEL 12/2019:

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