Zehn vor acht ist fünf vor zwölf

FERNSEHEN

Die »Tagesschau« ist immer noch die quotenstärkste Sendung im deutschen Fernsehen, obwohl dort weder der Bergdoktor noch Florian Silbereisen auftreten. Warum eigentlich? Es gibt dort prinzipiell nur schlechte Nachrichten (selbst Nachrichten, die beim ersten Hören gut klingen, z.B. »Die Koalitionsparteien haben sich geeinigt«, stellen sich nach ein paar Tagen als verdammt schlecht heraus). Die Präsentation ist dröge wie Frontalunterricht und gute Tipps wie auf Tiktok – »Mit einer Hand voll Haferflocken wird Ihr Klo wieder weiß« – bekommt man auch nicht. Trotzdem will sich der Deutsche dieses Abendritual nicht nehmen lassen, wahrscheinlich weil sonst sein Stuhlgang durcheinanderkommen würde oder weil der Hund nicht wüsste, wann er aufs Sofa springen darf. Doch für zartbesaitete Bürger wird die »Tagesschau« sozusagen zusehends zum Gesundheitsrisiko – sie schlafen schlechter, erst schlecht ein, dann schlecht durch. Und riechen dann den ganzen Tag schlecht aus dem Mund.

BECK

Diesem Problem stellt sich die Intendanz des »Ersten«: Im Werbeblock vor acht werden auffällig oft Einschlafhilfen aller Art empfohlen, oral oder anal zu inhalieren. Überhaupt scheint es bei der Werbung dem Sender nicht nur ums Geld zu gehen. Der Werbeblock hat die schönen Bilder einer komplett funktionierenden Welt zu zeigen: wunderbare Schifffahrt zu den Fjorden oder karibische Inseln … Bilder eben, die die aus dem Gaza-Streifen wenige Minuten später erst erträglich machen.

Die Vorgaben für Werbung im Öffentlich-Rechtlichen sind streng, da darf nichts schiefgehen. Alte weiße Männer sind im Prinzip nur sterbend zu zeigen, auch wenn ihnen ein bestimmtes Medikament gegen die Erschlaffung der Hirnleistung oder ein Treppenlift noch auf die Sprünge helfen kann. Hautfarbige Personen sind grundsätzlich im Zustand des totalen Glücks, lachend, tanzend, singend, trinkend, Sport treibend oder bei beglückender Handarbeit für einen Unternehmer zu zeigen. Ganz so wie die Migrationshintergründler hierzulande leben und wie man sie ab morgens um zehn auf dem Alexanderplatz flanieren sehen kann. Sexuelle Wesen dürfen in der Vortagesschauwerbung überhaupt nicht gezeigt werden, weil die Gefahr besteht, dass ältere Paare gemeinsam vor dem TV sitzen und eine Art Rechtfertigungsdruck – »Du könntest ja auch mal wieder …« »Ja, wenn du so aussehen würdest, wie die da …!« – entstehen kann.

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Vermintes Feld ist die Werbung für bestimmte Hygieneartikel, für den islamischen Staat, für die Treibjagd, und es darf weder gesoffen noch gehurt werden. Und die Wurst-Werbung darf nicht zeigen, wie sorgfältig die Schweinchen von jungen, fröhlichen Männern aus aller Welt geschlachtet werden.

Allerdings hat auch die Werbung die schöne heile Welt abgewählt: »Es ist fünf vor zwölf, Naturkatastrophen, Kriege, Epidemien bedrohen unseren Planeten … Investieren Sie in unseren Nachhaltigkeitsfond!«, dann wird es nicht ganz so schlimm kommen. Oder: »Einfach ohne Netz fischen, mit Netz einkaufen … Wir sparen Plastik ein … Das wird die Welt nicht retten, aber wir alle zusammen schon …« beim Einkaufen mit dem Jutebeutelchen.

Genauso vielversprechend präsentieren sich Automarken. Umweltschonend, leise und kurz vor der Heiligsprechung sind die schnittigen Neuwagen. Dazu gibt es die passenden Versicherungen, die »einen Schutzmantel über Ihre Liebsten legen.« Mit dem richtigen Stromanbieter, einem, der aus Scheiße Licht macht, ist man schon ein viel besserer Mensch als alle anderen, die jetzt auf Susanne Daubner warten. Und wenn man dann noch CO2-neutral verreist, nach Sri Lanka auf eine Biobananen-Plantage vielleicht, kann sich das Gewissen entspannen. Das kostet natürlich etwas mehr. Aber der durchschnittliche »Tagesschau«-Zuschauer ist nicht knauserig, wenn es um Gutes-Tun geht.

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Nur die Gesundheit ist den werbetreibenden Unternehmen noch wichtiger als der Klimaschutz. »Rissige Haut, Spannungsgefühl? … Da hilft …« – »Kennen Sie das auch? Nächtlicher Harndrang? … Da hilft …« Und es gibt sogar »ein Pflaster für den Darm« (ein durchaus umstrittener Spot, denn Zuschauer haben schon angefragt, wie man es wieder rauskriegt). Die Welt geht also doch noch nicht unter, auch wenn es stetig bergab zu gehen scheint.

Wie bei Kai Pflaume dürfen die Zuschauer bei der Werbung auch mitraten: »Welche von den beiden ist Gebissträgerin?« Natürlich beide. Die attraktiven Ladys in der Haftcremewerbung, die abwechselnd in grüne Äpfel beißen (und ihre Pflaster für den Darm wahrscheinlich intus haben), sprudeln vor Lebensfreude und trotzen einem Sturm auf einem Segelboot, ohne dass ihnen die Dritten davonfliegen.

Wenn doch alles so schön einfach wäre! Die »Tagesschau« rückt näher, Anja Kohl präsentiert »Wirtschaft vor acht« und schon ist die gute Laune dahin. Die Frau zischt »sei mal ruhig!«, und der Mann geht ein Bier holen. Es empfiehlt sich, den Ton immer ein bisschen niedriger zu regeln und erst beim Wetter wieder rauf, aber nur wenn es Sonnenschein verspricht.

FELICE VON SENKBEIL

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