Zeichen setzen

Früher ging es ohne. Früher waren wir auch nicht im Krieg.

Auf dem Rastplatz Osterfeld fragte ich den Mann, der eben noch links geblinkt hatte, dann jedoch abrupt scharf rechts auf den Parkplatz eingebogen war, ob er sie noch alle habe. Er lächelte bübisch, wie einer, dem ein hübscher Streich geglückt war, und sagte ernst, fast feierlich: »Ich wollte ein Zeichen setzen.«

Da wurden uns beiden beide Augen feucht, stumm reichten wir einander die Hand. Es war wie ein Schwur: Möge es dem Aggressor die Luft zum Atmen rauben, möge er sich den Penis brechen!

Cartoon von PETRA KASTER

Und so geht es den ganzen Tag. Eine Alte trägt einen körperwarmen Hundekotbeutel über den Markt zum einzigen städtischen Abfallkübel, das Vieh hinterdrein. Aber mit welcher Grandezza die beiden auftreten: Noch ist Kiew nicht verloren, sagen sie mit jeder Faser ihrer Körper. Was für ein Zeichen! Bei Kaufland sagt eine Stimme kurz vor 21 Uhr, dass nunmehr der Laden schließe und wir gut nach Hause kommen sollen. »Gut nach Hause« – in diesen Zeiten, ein starkes Zeichen! Der Klempner (Klo verstopft) fragt: »Brauchst du eine Rechnung?« Dieses liebkosende Schützengraben-Du – denn jetzt geht es um mehr als eine blöde Rechnung: um Lyssytschansk zum Beispiel. Ich so: »Natürlich nicht.« Und er so: »Ein starkes Zeichen, Alter!« Und ich so: »Slava Ukraina!«

Ich weiß gar nicht, wer damit angefangen hat. Lars Klingbeil wahrscheinlich. Die fünfhundert Helme waren »vor allem erst einmal ein starkes Zeichen«. Und als es einfach nicht sechshundert werden wollten, wurden sie »ein wirklich sehr starkes Zeichen«. Und als der Wolodymyr, der Präsident unseres Heimatlandes der Herzen, dauernd nach dem deutschen Kanzler rief – war das für Klingbeil »so was von einem starken Zeichen«.

    Anzeige

Dann kam die Zeitenwende. Naive Gemüter dachten vielleicht: »Na so was« oder »hat es bei Hitler auch gegeben«. Denn noch fehlte das starke Zeichen. Es war einfach noch nicht gesetzt. Doch dann: hundert Milliarden! Verdammt, was für ein starkes gesetztes Zeichen! Und gleich noch eins hinterher gesetzt: der Spritpreisschock. Da braucht es große Geister, die dem Zeichen sprachliche Gestalt geben, z.B. Gauck: »Für die Freiheit können wir auch mal ein bisschen frieren.«

Seitdem setzen viele unserer Mitbürger täglich ein oder zwei Zeichen unterschiedlicher Stärke ab, routinemäßig, sozusagen unisono zur Verdauung, erleichtern sich zumeist in öffentlichen Anstalten, bitten beispielsweise die Ukraine in die EU oder streicheln eine ukrainische Flüchtlingsfrau … Dem ZDF-Mann Christian Sievers treibt es regelmäßig die Rührung ins Hemd, wenn er vom Einspieler aufsieht, ein weicher Mann der starken Zeichen.

Man sollte meinen, irgendwann seien alle Zeichen aufgebraucht und wir hätten Mühe mit dem Nachschub bei all den gerissenen Lieferketten. Mitnichten! Denn erstens ist der Krieg noch nicht gewonnen und auf einen Diktatfrieden (starkes Wort, starkes Zeichen!) lassen wir uns nicht ein. Und zweitens? Zweitens wäre es ein starkes Zeichen, wenn die sogenannten kleinen Leute jetzt nicht auch noch durch dümmlichen Geltungsdrang die Unternehmer zwängen, die Preise sonst wie hochzuschrauben. Oder wenn die in Schwedt sagen würden: »Was soll’s, es gibt auch andere schöne Jobs, in der Pflege z.B. oder in der Bundeswehr.«

Just heute Abend ist unser Freund, der Historiker Andrij Melnyk, zum stellvertretenden Außenminister unseres Heimatlandes der Herzen befördert worden. Ich muss hier Schluss machen, um zu hören, ob irgendwer (Hofreiter?) sagt, was für ein wunderbares starkes Zeichen da gesetzt worden sei, weil es schließlich jetzt nicht um die Ermordung der polnischen und ukrainischen Juden gehe (die sind ja schon tot), sondern schlussendlich um den Sieg, den Endsieg quasi, wenn das Wort nicht so verbraucht wäre.

Die Redaktion bat mich, nicht mehr als 4000 Zeichen incl. Leerzeichen zu setzen, für mehr könne sie das Honorar nicht zahlen. Ich aber setze kühn 4000 plus 1 (ein!) starkes Leerzeichen (honorarfrei), weil es mir um die Sache geht! Dächten alle Mitbürger so und vergäßen darüber nicht, Juli Zeh und Richard D. Precht an einen Gartenzaun zu binden und mit der Bildzeitung totzukitzeln (wäre ein starkes Zeichen!), würde der Kreml schon brennen.

MATTI FRIEDRICH

Nur noch für kurze Zeit:

Auslese

    Anzeige