Meisterwerke

Kunst von EULENSPIEGEL-Lesern, gediegen interpretiert

Jörg-Michael Müller

Das Aufstellen eines Bildstocks als Zeichen der Volksfrömmigkeit ist in den letzten Jahren selten geworden. War es früher beispielsweise noch üblich, an der Stelle, an der der Blitz die Schwiegermutter erschlagen hatte, einen steinernen Pfeiler zum Andenken zu errichten, wo man alljährlich dem Heiligen, der dafür verantwortlich gemacht wurde, mit einer Blumenniederlegung danken konnte, so gelangen die religiösen Kleindenkmäler heutzutage höchstens dann ins Bewusstsein, wenn die Menschen, auf der Suche nach einem freien Parkplatz als Ausgangspunkt für eine Wanderung, beim Einparken daran hängen bleiben. In manchen Gegenden Österreichs und Frankens sind sinnlos am Wegesrand aufgestellte Bildstöcke die zweithäufigste Ursache für Lackschäden.

Hier sehen wir den Entwurf für einen zeitgenössischen Bildstock. Wie die Grabsteine zeigen, steht er auf einem Friedhof, der unter anderem die letzte Ruhestätte für »die Wahrheit« (lat. veritas) und »der Weisheit« (lat. Genitiv sapientiae) geworden ist. Die Überschrift, großzügig mit einem Komma versehen, deutet an, wem mit dem Bildstock gehuldigt werden soll: der Angst. Und der Ängste gibt es heute viele. Sie werden im Bildstock symbolhaft dargestellt: Die Angst, im Supermarkt zu ersticken, weil man eine Maske tragen muss; die Angst, von Angela Merkel für alle Ewigkeit im Wohnzimmer eingesperrt zu werden; die Angst, vom Teufel einen Todes-Chip in den Oberarm gejagt zu bekommen; die Angst, sich mit komplexen wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzen zu müssen. All diese Ängste hätten einen Ort verdient, an dem sie angebetet werden können.

Doch dieser Platz für den Bildstock ist gefährdet, denn eine Flut wird kommen, die alles hinwegzuspülen vermag. Die Katastrophen, die der Klimawandel bringen wird, werden demnach alle Ängste und religiösen Möbel untergehen lassen. – Die frohe Botschaft des Gemäldes lautet daher: Kein Bildstock wird hoch genug sein, den Fluten zu trotzen, die Religion wird untergehen.

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