Das absolute Lustprinzip
FERNSEHEN
Kinder wollen nichts lieber als lernen, lernen und nochmals lernen. In den Nachrichten zeigt man uns täglich missmutige Bratzen, die ihren Kuscheltieren und kleineren Geschwistern Gewalt angedeihen lassen, weil ihnen das Lernen in fröhlicher Gemeinschaft so sehr fehlt. Vor allem die Rechenwettbewerbe, bei denen alle aufstehen, der Streber (Berufswunsch »was mit Investment«) sich als erstes setzen darf, und das Hartzi-Kindlein als Verlierer stehenbleibt. Solche Events gibt es jetzt natürlich nicht, sie fehlen schmerzhaft. Mit großen Augen schauen einen die schulpflichtigen Leibesfrüchtchen an: »Mama, habe ich in diesem Leben überhaupt noch eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt?«, scheinen sie zu fragen, oder: »Wann macht ihr endlich die Hufe hoch, damit ich euer Geld erbe und mich die Schule mal kann?« Auch gilt es, jeden Tag die Rätsel des Lebens zu klären: Warum pinkeln Hunde im Stehen und Papa muss sitzen? Warum wächst beim Schwein das Schnitzel nicht nach? In Berlin gibt es mehr Ratten als Menschen – warum ist dann nicht eine Ratte Regierender Bürgermeister?
Letztere Frage gehört eindeutig in das obskure Fach Lebenskunde, Ethik, Religion, in dem emotional zerfließende Lehrerinnen ihre Gefühlswelt auf wehrlose Kinder übertragen. Zum Glück wurde das öffentlich-rechtliche Fernsehen doch noch nicht abgeschafft. Im Gegenteil – wie Amazon, Pizza-Fahrer und Apotheker gehört es zu den Corona-Gewinnern, denn was soll man den ganzen Tag sonst machen? Hauptsache, es flimmert.
Das reicht den Sendern aber nicht. Verschärft machen sie sich mit ihrem Bildungsauftrag wichtig. Als ob sie durch beherzte Lernspiele verhindern, dass im Schuljahr 20/21 durch die Bank alle Schüler sitzenbleiben müssten, weil der Staat ihnen jegliche Bildungsinhalte vorenthalten hat. Aber nein! Das Öffentlich-rechtliche verbreitet die durch nichts begründete Zuversicht, es könne die Verblödung einer ganzen Generation verhindern. Zum Beispiel den Verlust jener Kulturtechnik, bei der man Buchstaben zu Silben und Silben zu Wörtern und Wörter zu Sätzen zusammenzieht, um dann in ihnen auch noch einen Sinn zu entdecken!
Die TV-Lehrer sind unsere letzten Hoffnungsträger. Sie krauchen aus ihren staubigen Büros im Souterrain und reisen zu Vulkanen, in die Wüste Gobi oder auf den Grund der Meere, um Antworten zu finden auf die großen Fragen der Naturwissenschaft. Sie wandern, buddeln, schaben, um dann mit großen Fragezeichen im Gesicht Gesteinsbrocken in die Kamera zu recken. Steht halt in Sachkunde auf dem Plan, da muss es auch Geld kosten. Und cool muss es sein. Die Schule war zwar noch nie »cool«, sondern höchstens kalt, weil die Fenster geöffnet bleiben mussten. Cool muss es sein, weil die einmalige Chance besteht, kleine, leicht beeinflussbare Menschlein zum Fernsehen zu verleiten, die bisher gar nicht wussten, warum da ein Bildschirm an der Wand hängt.
Um acht geht’s los. – Und damit schon mal an der Zielgruppe vorbei. »Was? Schule gibt’s keine, aber Frühaufstehen soll’s immer noch geben?« Ein super »spannendes« Thema jagt das nächste: Algebra, Wasserdampf, griechische Götter und die Fledermaus machen einen Schulvormittag zum medialen ARD alpha-Dauerevent.
Das größte didaktische Problem besteht wohl darin, dass die Rezipienten nach einer Minute weggucken und sich Youtube zuwenden, weil sie denken, den Lehrfilm über den Wasserläufer könnten sie später immer noch schauen. Nein, ihr Rotzlöffel, Fernsehen ist, wenn man zu einer vom Intendanten festgesetzten Zeit das guckt, was der Intendant wünscht, dass es angeguckt wird. Der Intendant ist nämlich so was wie die Schulbehörde eures Bundeslandes, die seit einem Jahr überlegt, wie man Kinder beschult, wenn die Schule abgeschlossen ist …
Ein zweites Problem ist natürlich, dass man keine Likes abgeben kann. Und dass die ganze Quälerei im Wohnzimmer unter den Augen von Erwachsenen stattfindet, die Sachen sagen wie »Schule ist nicht im Liegen, sondern im Sitzen, und auch nicht im Schlafanzug« und: »Du schreibst ja gar nichts mit!«
Die Moderatoren sind aufgeweckt wie an diesem Vormittag vermutlich keiner ihrer Zuschauer, tragen freche Igelfrisuren, angesagte Turnschuhe, grinsen dauernd und lachen zu viel. Denn alles soll Spaß machen, wie in der Diktatur – keine Freiheit, aber Spaß. Sogar der Mathematik ist die Unterhaltung immanent. Wie ein Animateur auf einem Kreuzfahrtschiff gibt der Matheclown alles, um in »Termen« das Lustprinzip zu entdecken. Ein Stück Kreide und ein feuchter Schwamm reichen dazu nicht. Nein, da muss man ins »Sealife«, einen riesigen Fische-Zoo! Mathematik ist eben überall, leider. Alles über Prozente lernt man am besten beim Fußballclub. Fußballspielen, das wäre auch toll, denkt da das Lockdown-Kind. Mathe-Schulfernsehen – ein großer Sack voller Erlebniswelten – aber immer schön rechnen! Für die Naturwissenschaften im ZDF ist der Erklär-Opa im V-Pulli, Professor Harald Lesch zuständig. Der weiß wirklich alles. »Terra x plus Schule« gibt es tatsächlich auch im Internet. Die Mediathek ist reich bestückt. Und das Beste: Die meisten Beiträge sind unter fünf Minuten lang. Damit bleibt man knapp unter der zumutbaren Aufmerksamkeitsspanne eines ADHS-Teenies auf Redbull, ohne zu riskieren, dass er das Handy zückt oder mit der Stirn gegen die Kinderzimmerwand schlägt. Leider sind die Themen nicht an den Schulstoff gekoppelt. Lesch ist also was für Streber, Typen, die bei Pflaumes »Wer weiß denn sowas?« oder »Groß gegen Klein« mitspielen wollen und denen die Schule ohnehin nur unzureichend Auskunft über das Artensterben oder Asteroideneinschläge geben könnte.
Aber Eltern, glaubt nicht, ihr seid entlassen! TV-Schule braucht eure permanente Assistenz. Ihr werdet sogar nicht drum herumkommen, eine peinliche Fernsehzeitung zu abonnieren. Im Prinzip müsst ihr am Sonntag den Lehrplan für die Woche machen. Der muss natürlich die Bildungsinhalte aufweisen, die die Klassenleiterin eures Kindes euch aufgegeben hat. Und wenn das Kind schulfern fernsieht, müsst ihr natürlich danebensitzen. Loben, immer wieder loben! Und gemeinsam mit den Moderatoren irre lachen! Das hilft.
FELICE VON SENKBEIL