Nun, Volk, steh auf und wende ein!

Unsere Besten

Wofür Hitler im Wahlkampf das Flugzeug nutzte, das muss Michael Kretschmer mit der Ministerpräsidentenlimousine schaffen: plötzlich überall und nirgends zu sein, in aller Herrgottsfrühe aufzutauchen wie ein Spuk, sich von fanatisierten Parteigängern zurufen zu lassen: »Wir drücken Ihnen die Daumen!« (manchmal wäre ihm ein Glas Wasser lieber) – und winkend wieder zu verschwinden. Sogar seine Widersacher von der AfD müssen inzwischen nicht neidlos anerkennen – der »AHa«, wie sie ihr Idol liebevoll verkürzelt nennen, hätte das nicht besser gekonnt.

Zeichner: Frank Hoppmann

Vergleiche mit dem Dritten Reich sind jedoch häufig fehl am Platze; sie werden von formulierungsschwachen Autoren oft dazu missbraucht, einen effektvollen Auftakt für einen schwachen Text zu finden. Kretschmers Kampagne hat mit der »Bewegung« des Führers schon deshalb nichts gemein, weil er sie ganz bewusst nicht »Kretschmer-Bewegung«, sondern »Neuer Schwung für Sachsen« genannt hat. Sie ähnelt eher der großen demokratischen Volksaussprache, die es vor jeder popeligen DDR-Kommunalwahl gab. Stolz teilt Kretschmers Staatskanzlei mit, dass »das Rum – pelstilzchen«, wie der Chef dienstintern genannt wird, in den 18 Monaten seiner Amtszeit 13 000 Sachsen »erreicht« habe. Physisch, sozusagen.

Er saß schon in Flöha am Küchentisch und lobte den sächsischen Reibekuchen, tauchte im Stadtbad Chemnitz aus dem Schwimmerbereich auf, den Slogan »Sicherheit, Zusammenhalt und gute Arbeit« auf der Badekappe, und er reckte das Köpfchen unterm Bett in einem veganen Bordell in Leipzig-Connewitz mit der spitzbübi – schen Frage hervor: »Na, wo drückt Sie der Schuh?«

Aber 13 000? Von vier Millionen Sachsen! Da reibt man sich schon verdutzt die Augen. Das sind pro Woche etwas mehr als 700 Leutchen. Also etwa zwei gut gefüllte Vorstellungen im Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz, wenn dort Frank Schöbel singt. 13 000 – das schafft doch jeder Influencer vor dem Morgenschiss! Ganz zu schweigen von der AfD mit ihrer raffinierten Internetstrategie, in der es von Bots, Trollen und anderen Schweinereien nur so wimmelt.

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Ausgabe 08/2019 – S. 22-23

Was hat der Kretschmer in den letzten anderthalb Jahren eigentlich gemacht? Wahrscheinlich regiert, wie seine durch ihr vollständiges Versa – gen berühmt gewordenen Vorgänger. Nein, solcher Häme verfällt nur, wer nicht die ungeheure Intensität dieser »Bürgergespräche«, dieser »nahbaren Begegnungen mit den Sachsen« erlebt hat: dieses »Magic! Magic!« des Landesvaters, das er sich bei den Ehrlich Brothers abgelauscht hat, diesen »neuen Schwung«, dieses »von Sachsen für Sachsen«-Pathos, dieses »Sachsen first«. »Das alles«, beobachtete die FAZ, »beschwört Michael Kretschmer in einer 45 Minuten langen, frei gehaltenen Rede, bei der er immer wieder im Kreis läuft« (das z.B. hat der Führer verabsäumt), »die Faust ballt« (das jedoch nicht), »Dynamik, Tempo und Energie vermitteln will« (also doch die »Kretschmer-Bewegung«), und zwar »in einer Art Manege«, wenn nicht sogar Sportpalast, »turnt und verausgabt sich der Vorsitzende«, am Ende: »Ovationen im Stehen.« Und rhyth – misches Klatschen zu »Sing, mei Sachse, sing« und Hochrufe auf das Politbüro?

Dann, hinter einem Badetuch mit der Silhouette der Frauenkirche verborgen, wringt der Parteitribun sein Hemd aus. So erfrischt, stellt er sich putzmunter an die Schwingtür nach außen, wo er, wie der Pfarrer am Sonntagmorgen, möglichst jedem die Hand gibt, ihn also »erreicht«. Denn die 13 000 – das sind alles Gleichgesinnte, brave Demokraten, die ihm »Ich drücke Ihnen die Daumen« zuraunen, Sätze, so die FAZ, »die er schon nicht mehr hören kann«.

Aber schätzen wir sie nicht gering! Aus diesen dramatischen Séancen ist buchstäblich Unglaubliches herausgebrochen und emporgebrodelt, ein unerwarteter Mehrwert für Sachsen, nämlich 200 sogenannte »Sachsenideen«, die allesamt in Kretschmers »neuem Schwung für Sachsen« zur atemberaubenden Programmatik, sogar zum »Zukunftsprogramm« geronnen sind. Die Medien zitieren gern die revolutionärste der Ideen – die Wiedereinführung des Meisterzwangs. »Verachtet mir die Meister nicht«, heißt es beim Sachsen Richard Wagner. Die Chose spielt allerdings im Mittelalter, und zwar in Bayern: Der Meisterzwang – ein Start-up, das irre Lust auf die sächsische Zukunft macht. Nicht mehr jeder eingereiste Bulgare soll den sächsischen Sauerteig, vom Dresdner Christstollen ganz zu schweigen, kneten, nicht jeder Syrer sächsisches Haupthaar schneiden dürfen (geschätzt die Hälfte der 2015 eingereisten Syrer gab »Frisör« als Berufsabschluss an), sondern nur des deutschen Meisters feste, ruhige Hand mit Zertifikaten an der Wand.

Gut, 13 000 Wähler sind der CDU am ersten Sonntag im September also sicher. Aber wird das reichen? »Wo früher CDU-Wahlplakate klebten«, mäkelt die FAZ, »hängt jetzt überall die AfD.« Ein Grund zur Sorge ist das aber nicht. Denn Kretschmer hat einen ebenso klugen wie hinterfotzigen Plan in der Ficke, mit dem er die Mehrheitsverhältnisse im Landtag zum Tanzen bringen will: Er will – ein Novum in der Geschichte des Parlamentarismus – eine »Koalition mit den Nichtwählern« eingehen. Das heißt: Natürlich wird er allein regieren. Aber am Kabinetttisch sitzen immer auch ein paar Vertreter der Klasse der Nörgler, Wutbürger und Freizeitnazis. Deren Ministersessel bleiben zwar kalt, aber ihr – nennen wir es – Geist (Volkstum, Sachsenstolz und Heimattreue) durchflutet den Raum wie ein Furz, der dem Volkskörper entfährt, erfüllt ihn mit Zustimmung und Dankbarkeit für den großen Vorsitzenden. So hat man auch in der DDR in den 50er-Jahren bei Versammlungen einen Stuhl im Präsidium für Stalin freigelassen, um seiner Weisheit nicht entbehren zu müssen.

Dass die Koalition mit der schweigenden Mehrheit kein kretschmersches Halluzinosum ist und schon gar kein Witz (bei Humor ließ sich Kretschmer bislang nicht ertappen, auch war er, weil er zum Lachen in den Keller geht, noch nie in seinem Keller), belegt die Einführung des unterm deutschen Verfassungsbogen neuwertigen Instituts des »Volkseinwandes«. Nun, Volk, steh auf und wende ein! In völkischen Einwände-Bewegungen können sich dann alle sammeln – vom romantischen Nationalpatrioten über den Pegida-Latscher bis zu den rassistischen Hooligans von Chemnitz – und praktisch jedes Gesetz aufhalten. Wer solch ein kregles Volk hat, braucht nicht mit der AfD zu koalieren.

Jedoch, der neue Sachsen-Schwung könnte jäh erlahmen. Zwei »irre Bedrohungen für das gesamte Land«, so Kretschmer, stehen im politischen Raum. Die erste ist der Kohleausstieg – mit anderen Worten: Der Feind, das ist die Bundesregierung. Die zweite, noch fürchterlichere, scheint nun schon beinahe abgewendet zu sein: In einer Nacht-und-Nebel-Aktion ist Kretsch – mer nach St. Petersburg geflogen, hat sich bei einem internationalen Kongress an Putin rangewanzt und Tacheles gesprochen. Ja, es ist wahr: 1953 hat Stalin aus einer Laune heraus den Freistaat Sachsen an die DDR verschenkt, so wie Chruschtschow später die Krim der Ukraine geschenkt hat. Würde Putin also – wie die Krim – auch Sachsen annektieren? Nein, das wird er nicht, jedenfalls nicht bis zu den Landtagswahlen, Kretschmer hat das abgewendet! Vermutlich noch vor dem Wahlsonntag kommt Putin zum »lieben Michael« zu Besuch nach Dresden, residiert in seiner alten Residenz auf dem Weißen Hirsch und erhält aus den Händen des Ministerpräsidenten den »Goldenen Rodel«, die höchste Auszeichnung der Staatssicherheit.

MATHIAS WEDEL

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