Vielleicht Diabetes

Zeichnung von Frank Hoppmann

Auch bei wundervollen, großen Staatenlenkern, Oberbefehlshabern und Parteivorsitzenden schwelen zuweilen ungelöste Konflikte im Unterbewussten. Die nie stattgehabte Konfrontation mit einem übermächtigen Vater, dessen Zurückweisungen eine tiefe Unsicherheit hervorgerufen haben, können ein solcher Konflikt sein. Der Wunsch nach Nähe und Lob, den das Kind verspürt, kollidiert mit der geschäftigen Welt des alles beherrschenden Vaters, in der wenig Zeit und Verständnis für den Sohn ist und die dem Kind darüberhinaus fremd bleibt. Das Befremden kann ausgelöst werden durch kleine Alltäglichkeiten wie die vom Vater ausgeführte Exekution eines aus Sicht des Kindes nett erscheinenden Familienmitglieds oder die permanente Bedrohung des Planeten mit der Apokalypse. Ursprüngliche Bewunderung kann in Angst umschlagen: Die im Grunde nur normal-große Atomrakete eines Vaters kann einem kleinen Jungen wie ein riesiges Monster vorkommen. Er fühlt sich durch ihre Anwesenheit eingeschüchtert und entwickelt die Vorstellung, seine eigene Atomrakete könne niemals so groß und mächtig werden. Die fehlende Anerkennung erzeugt ein Minderwertigkeitsgefühl, doch dann stirbt der Vater. Weil es mit ihm nie zum offenen, klärenden Konflikt kam, bleibt der Druck, sich beweisen zu müssen, nach dem Tod des Vaters virulent, weshalb der Sohn nun die Nähe zu älteren, dem Vater ähnlichen Männern wie Donald Trump sucht. Doch auch hier folgt, nicht zuletzt weil es sich nicht um den leibhaftigen Vater handelt und Trump wirklich ein selten dämlicher Schwachkopf ist, eine Enttäuschung der anderen. Die Flucht in die übermäßige Nahrungsaufnahme, das Essen von Erdnussflips und Torten, die immer gut zu dem Kind waren und es nie enttäuscht … – Äh, Verzeihung, was soll das? Nein, bitte nicht mit dem Ding in meine Richtung zielen! – Zu große Fußspuren, die … – Äh, hallo? Kann mal jemand … äh. – Aus dem Schatten des Vaters … Ahhh, ahhh, nein! Nein! Ahhhh!«

All das wurde Kim Jong-un Anfang des Jahres von seinem Psychologen erzählt, dem kurz darauf mittels einer Panzerfaust aus kurzer Distanz die Approbation entzogen worden war. Wie schon Dutzenden Kollegen vor ihm.

Doch wie die Panzerfaust hatte auch der Psychologe einen wunden Punkt getroffen. Kim Jong-un begann, über sich nachzudenken. Was wusste er von sich? Selbst ihm hatte man kaum etwas erzählt. Nordkorea und seine Machthaber sollen ein Geheimnis bleiben.

Was man weiß: Kim Jong-un wurde als drittes Kind von Präsident Kim Jong-il und dessen dritter Frau oder Mätresse 1982, 1984 oder 1987 zwischen November und August geboren. Den offiziellen Chroniken zufolge aß Kim Jong-un nur selten und schlief wenig, um möglichst viel zu lernen. Allgemein wird vermutet, dass Kim Jong-un (oder sein Bruder Kim Jong-chol) als Jugendlicher (oder Kind) in der Schweiz für zwei (oder drei) Jahre zur Schule gegangen ist. Dort soll er sehr viel Basketball gespielt und sowohl in Mathe als auch in Sport – beziehungsweise in Bio und Erdkunde – sowie zwei oder vier weiteren Fächern (auf jeden Fall aber in Sport) eine Fünf oder eine Drei minus im Zeugnis (oder Halbjahreszeugnis) gehabt haben. Seit 2009 ist er mit der Sängerin Ri Sol-ju verheiratet, möglicherweise auch seit 2011 mit der Sängerin Hyon Song-wol. Letztere oder erstere Ehe soll noch von seinem Vater oder dem ehemaligen Basketballprofi Dennis Rodman in die Wege geleitet worden sein, was manche aber bezweifeln. Eines der Ehepaare hat zwei Söhne beziehungsweise zwei Söhne und eine Tochter oder, einem aus Nordkorea geflüchteten Dissidenten zufolge, einen Sohn, zwei Töchter und einen wirklich sehr süßen Dackel. Oder Terrier. Ärzte, die ihn schon mal im Fernsehen gesehen haben, vermuten, dass Kim Jong-un an Diabetes leidet und sehr wahrscheinlich eine echt coole Frisur hat. Als gesichert gilt hingegen, dass er mit fünf Jahren seine erste Abhandlung über moderne Kriegführung schrieb. Seitdem gilt er zu Recht als strategisches Genie. Mit acht erfand Kim Jong-un das Fahrradfahren ohne Stützräder.

Nach der Exekution eines weiteren Psychologen keimte Anfang des Jahres in Kim Jong-un der Wunsch nach Veränderung. Die ständige Paranoia, sein darbendes, geknechtetes Volk – er wollte alles hinter sich lassen. Seine Doppelgänger leben in vielen Ländern. Schon oft hatte er einen von ihnen die offiziellen Betriebsbesichtigungen in Nordkorea erledigen lassen, während er selbst als vermeintliches Kim Jong-un-Double in Las Vegas auf der Bühne stand und Elvis Presley-Lieder sang. Da kam ihm gerade recht, dass sich ein deutscher Gast angekündigt hatte. Der hatte zwar aufgrund eines medizinischen Eingriffs nicht mehr seine, Jong-uns Statur, doch wer würde das merken?

Zunächst lief alles nach Plan, als Sigmar Gabriel Ende März nach Nordkorea reiste. Der ehemalige deutsche Außenminister hatte zwei Bücher über seine Heimatstadt Goslar als Informationsmaterial dabei. Die Lohmühle, das Bäckergildehaus von 1501, ein gerupftes Huhn als Wappentier – Kim Jong-un hatte selten ein so belangloses Kaff gesehen, niemand würde ihn in Goslar vermuten. Auch Gabriel war von der Aussicht auf seine neue Rolle begeistert. Überall Lakaien, die jeden spontanen Gesinnungswechsel beklatschten und im Falle eines Widerworts beseitigt und reibungslos ersetzt werden konnten. Und er hätte endlich einen echten Atomknopf auf seinem Schreibtisch und nicht mehr diesen Quiz-Buzzer, den er sich im Internet bestellt und mit dem er immer seinen Mitarbeitern gedroht hatte.

Doch kurz vor Kims Abflug nach Deutschland unterlief Gabriel ein Fehler. Er wolle umgehend Hartz IV einführen und damit alle Probleme des Landes auf einmal lösen, erklärte er in einem Nebensatz. Das war zu viel für Kim Jong-un. Zwar hasst er sein Volk wie jeder anständige Diktator, aber das war selbst ihm zu brutal. Gabriel musste umgehend das Land verlassen und verkaufte der Presse in Deutschland seine Reise als privaten Urlaub. Im nordkoreanischen Staatsfernsehen sagte Kim Jong-un dagegen wörtlich über Gabriel: »Einem solch skrupellosen Widerling würde ich nicht mal meinen Dackel anvertrauen! Oder Terrier.«

Für die deutsche Sozialdemokratie ist es ein weiterer herber Rückschlag, dass der Austausch nicht zustande kam. Kim Jong-un hätte der SPD sicher über die 100-Prozent-Hürde geholfen.

Gregor Füller