Die Ablösung

Die Berliner Zeitung berichtete. Dann war Stille. Dann kleckerten ein paar Blätter, so der Spiegel, hinterher. Aber sie erzählten die Geschichte irgendwie verschämt, taten so, als ob alles nach Plan verlaufen wäre, wenn, ja wenn der Russe sich nicht eingemischt hätte.

Diese Verklemmtheit ist widerlich. Sie will uns sagen, dass den Guten auf dem Weg zum Sieg nicht viel passieren kann – es sei denn, das Böse zeigt sich von seiner schlechtesten Seite.

Was war geschehen? »Fast ohne Gegenwehr« (Berliner Zeitung) waren die Russen durch die Linie an einem Frontabschnitt marschiert. Nein, spaziert. Sie inspizierten die Erd»wohnungen« der Ukrainer, stöberten nach Alkohol, aßen Kohlsuppe, die noch warm war und machten grinsend Selfies für die Frau daheim. Dann besetzten sie Otscheretyne, von Berlin aus 24 Stunden mit dem Auto, immer geradeaus. Weil das Nest auf einem Hügel liegt, eröffnen sich den Russen nun ganz neue Aussichten.

Erklären konnte das keiner. Es war wohl so: Den Jungs im Graben – manche seit drei Jahren im Krieg, manche schon einmal verwundet – war seit langem Ablösung versprochen. Dann endlich kam der ersehnte Tag! Sie wuschen sich, so gut es ging, machten Ordnung für ihre Nachfolger, schrieben einen Zettel: »Wodka im Erdloch, viel Glück!« Und dann warteten sie. Und dann warteten sie weiter. Dann sagte ihr Kommandeur: »Die melden sich nicht im Stab. Vielleicht hat der Russe die Leitung zerstört.« Schließlich, wahrscheinlich nach Stunden, sagte ihr Kommandeur, der vielen Nachfragen müde: »Wisst ihr was, Jungs, wenn doch die Leitung gestört ist, gehen wir ihnen auf halbem Wege entgegen, hier passiert ja doch nichts mehr.«

Dann gingen sie eben.

Das kommt mir bekannt vor. Bei der Ausbildung zum Grenzsoldaten (fünfzig Jahre ist das her) erlangte ich eine besondere Qualifikation, die sogenannte »Qualispange«: Ich wurde Regulierer, ich lernte, wie man auf einer Kreuzung den zivilen Straßenverkehr zum Erliegen bringt, solange Armeefahrzeuge über sie fahren.

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Kein schlechter Job – Mädchen winkten einem zu, wenn eine Dreiseitensperrung besonders elegant gelang oder ich grinsend den Stab hob, als ob der was ganz anderes bedeute … So verging die Zeit, während meine Genossen auf dem Schießplatz das Töten übten.

Eines Tages wurde ich auf einer Kreuzung in Bad Blankenburg abgestellt, mein Kumpel aber, der hatte das große Los gezogen – Bahnhofskreuzung Saalfeld, Kulmbacher Straße! Da war toller Publikumsverkehr, man bekam Schokolade aus dem Trabifenster gereicht (sie haben dort immer zu viel davon, denn sie stellen sie selber her), und einfache Werktätige kamen auf einen Schwatz in die Kreuzungsmitte und lobten den Weltfrieden. Nach einem erfüllten Regulierertag ging’s zurück in die Kaserne.

Beim Morgenappell fehlte einer – mein »Saalfelder«! Die Oziere rannten mit feuerroten Gesichtern hin und her – Landesverrat? Fahnenflucht? Per Anhalter oder mit dem Zug – und dann »rüber« zum Klassenfeind? Gleich erschießen den Kerl, wenn wir ihn kriegen, aber so was von gleich!

Dann, gegen Mittag, hatten sie ihn. Auf der Bahnhofskreuzung regelte er unverdrossen den Verkehr, lustlos zwar, doch fehlerfrei. Sie hatten ihn gestern vergessen. Er roch streng, man kann ungeschönt sagen: Er stank. Einerseits hatte er durchgehalten, andererseits jedoch nicht. Deshalb durfte er nicht mit dem Kompaniechef im Wartburg mitfahren, sondern musste hinten auf den LO.

Er hieß übrigens Jochen.

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Dass er nicht einfach seinen Reglerstab in den Hollerbusch gehängt und im Saalfelder Bahnhof den Abort frequentiert hatte, gereichte ihm einen Tag später zu großer Ehre. Wegen außerordentlicher Treue zu seinem Fahneneid und bewiesener Tapferkeit vor dem Feind (seiner Verdauung) wurde er belobigt – mit »Fotografieren vor der Regimentsfahne«! Das Foto hing dann im Flur. Er sah nicht froh darauf aus. Jemand hat »Scheißer« darunter geschrieben und so geriet sein richtiger Name langsam in Vergessenheit.

Kürzlich traf ich ihn wieder, auf einer Party des Bündnis Sahra Wagenknecht zu Ehren von Ludwig Erhard. »Mensch, Schei…!«, rief ich und stockte. »Jochen!«, half er mir ein.

Das Foto vor der Truppenfahne – falls es das unter Generalissimus Selenskyj überhaupt gibt – hat sich die fußläufig allzu agile Einheit der ukrainischen Armee, die doch nur nach Hause wollte, natürlich verscherzt. Als Deserteure erschossen hat man die Leute aber sicherlich auch nicht, dazu sind die dort nicht mehr genug. Ich finde sogar, die Männer haben Mut bewiesen. Die Paradoxie des Krieges ist, dass es mehr Mutes bedarf, seine Haut zu retten, als einen totzuschießen.

Sicherlich, sie haben in ihrer Wartestellung mit dem Ausguck nach der Ablösung nie in Gefahr gestanden, sich einscheißen zu müssen. Trotzdem – Krieg ist immer scheiße.

MATTI FRIEDRICH

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