Der Bettflüchter
Lustlos, noch im Bett, grapsche ich nach dem Handy. Nicht, dass es mich wirklich interessierte, was Die Linke auf ihrem Parteitag in Chemnitz treibt. Denn sie treibt jahraus, jahrein dasselbe:
Nettgemeintes, Hilfreiches, Besorgtes sprudelt aus ihr heraus. Wie man »unser Hier und Heute« verschönern könnte, fragt sie sich, so dass sich alle hierzulande zu Hause fühlen, auch die, die kein Privatflugzeug fliegen, auch Frauen aller Art, Parkplatzsuchende und Fahrradfahrer, Mieter und ihre Hausbesitzer, Kinder ohne Mittagessen, Strafgefangene und Staatsanwälte, Friedenskämpfer und Siegfriedenskämpfer, Mehrgeschlechtliche und Einfältige, Palästinenserfreunde und Israelfreunde, Kleingärtner und Großwildjäger usw.

Ein kompromissloses Programm, das kein Auge trocken lässt!
Aber sie waren bislang so traurig und so schrecklich wenige, die Linken in Deutschland, dass es sich schon aus Gründen des Artenschutzes verbot, sie zu verspotten.
Doch dann kam Heidi aufs iPhone! Heidi, die nie schläft und nur isst, wenn sie dabei weiterreden kann, Heidi, die so schnell denkt, dass sie sich beeilen muss, sich selber hinterher zu kommen, die nicht geht, sondern tanzt, schwebt, die lacht, als wolle sie den Planeten verschlingen – Heidi, die es dem Herrenreiter Fritze Merz gegeben hat! Was ihren Ruhm begründete.
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Heidi, deine Welt sind nicht die Berge! Und nicht die Klassiker des Marxismus. Deine Welt sind fünf Sekunden auf Tiktok, rotzfreche, witzige, von Optimismus strotzende fünf Sekunden – und schon sind wieder 100 Leute eingetreten. Sie könnte auf der Toilette weiterreden – wenn’s viral geht, bitte! Der Verein der »Fußkranken der friedlichen Revolution« (ein Schimpfwort der DDR-Bürgerrechtler gegen die SED/PDS) hüpft mit ihr zur Massenpartei.
Der Chemnitzer Parteitag stand vor der Frage: Was machen wir mit all diesen blitzblanken neuen Leuten? Und fast nur junge! Die Kerlchen rennen aus dem Saal, wenn’s keinen Fun gibt. Die »Silberlocken« erklärten sich bereit, wieder einmal von den Schönheiten einer Regierungsbeteiligung in Bremen und Schwerin zu berichten, und dann würde der Parteitag das Tanzbein schwingen … So war’s geplant.

Aber nicht mit Heidi! Heidi hat umstandslos dem Kapitalismus den Krieg erklärt – ab morgen! – und den Traditionsverein zur Klassenpartei. Und das Schweinesystem zum Feind, zum Todfeind, genauer gesagt. Lenins »Staat und Revolution« hat sie aber wohl nicht gelesen.
Ich sprang aus dem Bett (was an dieser Stelle natürlich keinen Leser interessiert) und dachte (was natürlich auch … usw.): Klasse, sie hat »Klasse« gesagt!
Seit Jahren hat die Die Linke »Klasse« nur noch in ironischen Gänsefüßchen gebraucht: »›Arbeiterklasse‹, wie wir früher scherzhaft sagten …« Gysi kennt seit langem keine Arbeiter mehr, sondern nur noch Arbeitnehmer, mit Aufstiegswillen in den Mittelstand. Und ohne Klasse natürlich auch kein Klassenkampf. Wie sollte man es auch dem »studentischen Milieu« in Heidelberg und Göttingen, den jungen Aufsteigern in die Aufsichtsräte und auf die Lehrstühle der Universitäten und in die NGOs vermitteln, dass es da eine Klasse gibt, die sie eines Tages in revolutionärem Furor in die Nord- und in die Ostsee jagen wird!

Ines Schwerdtner, die Parteivorsitzende aus Sachsen, setzte noch einen drauf und ließ sich vom nd zitieren, man wolle »nicht mehr in Tarnbegriffen« reden, sondern »Klartext«: Also Klassenkampf und Bürgerkrieg. (Aha, die Partei hat sich also bisher getarnt?)
Der andere Tiktoker von Der Linken kam hinterher, Gregor Gysi. Er sagte dem chinesischen Unternehmen, den Gegensatz von arm und reich zu überwinden sei ein »schönes Ziel« (sagte er nicht sogar »edles«?), aber noch nie erreicht. Aber man könne es ja mal ein bisschen versuchen.
Ach so!
Ich bin Bettflüchter – sonst hätte ich mich jetzt wieder hingelegt.
MATTI FRIEDRICH
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