Leidensgerecht

Montag vor acht auf der Straße vor der Hausarztpraxis im Friedrichshain. Die Leute stehen zuhauf. Ab und an bricht einer aus, um die Messingklinke zu malträtieren oder gegen das Türblatt zu treten. Sie kommen direkt von der Nachtschicht, dem Berghain oder einem anderen produzierendem Gewerbe, haben den Beat noch in den Gliedern, rauchen seltsame Sachen. Es ist ok, dass sie einatmen. Aber müssen sie auch ausatmen? Dann sollte man kein Feuerzeug anzünden. Manche stieren aus einer anderen Welt in die Morgensonne. Und erst die Gerüche – ihre Klamotten dünsten ganze Biografien aus! Die Tür springt auf, augenblicklich bildet sich eine gesittete Schlange.

Am Tresen: »Morjn, Krankschreibung verlängern, bitte. Brauchst nur die Karte durchzieh’n! Der Doc muss sich nicht extra bemüh’n. Bin echt alle, gloobste!«

Teresa Habild

Dann – zwei Sekunden Stille, während derer sich die Welt nicht zu drehen scheint: »Krankschreibungen werden ab heute, also mit dem Datum des heutigen Tages, nur noch stundenweise erteilt«, ruft die MTA laut, damit es alle wissen. »Bitte geben Sie an, zu welcher Tageszeit Sie sich in Absprache mit Ihrem Arbeitgeber arbeitsfähig fühlen werden.«

Stille, schwarze Stille. »Und bitte nicht die Nachtstunden angeben, die brauchen Sie ja zu Ihrer alsbaldigen Gesundung. Es sei denn, Sie arbeiten Schicht.«

Was dann wohl losgeht! (Ich weiß es nicht, ich war nicht dabei.) Wahrscheinlich fallen die japanischen Tuschzeichnungen von den Wänden und die Tresenkraft ruft: »Beschweren können Sie sich beim Präsidenten der Bundesärztekammer, dem Herrn Dr. Reinhardt!«, und ganz hinten im Gang guckt der Doktor aus der Tür: »Oder beim Expertenrat der Bundesregierung für Gesundheit und Resilienz!«

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Ist doch wahr! Seit Corona sind die Deutschen krank. Die Zahl der Krankschreibungen stagniert auf hohem Niveau. Deutschland, heißt es im Ausland, ist der kranke Mann Europas (jeder Lohnempfänger hierzulande entzieht sich jährlich an 20 Tagen der Ausbeutung, was eine Unverschämtheit und das Dreifache von Albanien darstellt). Die telefonische Krankschreibung, bei der man ausführlich in das Telefon hustet oder ruft: »Wo’s wehtut? Na, überall, Doktor!«, wagt die Regierung nicht abzuschaffen. Soziale Errungenschaften verteidigt das Volk mit Klauen und Zähnen. Das ist eine Lehre aus dem Scheitern der Regierung Scheidemann (SPD) 1919. Als der Ausschank von Gratis-Gerstenkaffee in einigen Maschinenbaufabriken eingestellt wurde, brachen Unruhen los.

Dann eben die Peitsche! Der Chef der Allianz-Versicherung, Oliver Bäte, hat vorgeschlagen den Karenztag wieder einzuführen – jenen ersten Tag der Krankschreibung, an dem kein Lohn gezahlt wird. (Aber warum eigentlich nicht? Na, wahrscheinlich, um den Arbeitgeber über den Schock hinweg zu trösten, dass es seinem liebenswerten Arbeitnehmer nicht gut geht. Herr Bäte verdient übrigens 23 300 Euro am Tag, da würde sich der Karenztag für den Arbeitgeber lohnen. Aber der Oliver fehlt natürlich nie, er ist körperlich sehr gesund.)

Er schlug es im Januar vor. Bei Redaktionsschluss dieser Zeitung spricht kein Mensch mehr davon, nicht mal der Oli selber – statt vier Mal im Jahr über die Jahreszeiten verteilt fünf Tage (mit Anschluss an nachfolgende Feiertage) würde das Proletariat dann eben ein Mal zwanzig Tage lang krank»feiern« (und dann den Jahresurlaub einreichen). Denn unsere Werktätigen der Hand und des Kopfes sind nicht auf selbigen gefallen! Und darauf sollten wir eigentlich stolz sein.

Nun also die stundenweise Gesundung, auf die dann jeweils ein schwerer Rückfall folgt. Das deutsche Arbeitsrecht kennt keine teilweise Arbeitsunfähigkeit. Weil auch das Leben nur dreierlei kennt: Gesund, krank oder tot. Es gibt aber noch ein sogenanntes »Direktionsrecht« mit dem Paragraphen 106. Der erlaubt es dem Arbeitgeber, mit seinem »abhängig Beschäftigten« zu machen, was er will – außer ihn zu züchtigen oder an intime Teile zu fassen. Er darf ihm – hat er kompetent eine Diagnose gestellt – eine »leidensgerechte Arbeit« zuweisen. Leidensgerecht – da steckt Gerechtigkeit drin!

Wir sollten uns daran gewöhnen. Denn wenn Krieg kommt – man hat ihn uns doch versprochen –, dann gibt es auch nicht nur Tote und Gesunde. Sondern Leute, denen das fehlt oder jenes. Denen durch stundenweise leidensgerechte Krankschreibungen wieder Freude am Leben zu schenken – was kann es Schöneres geben!

MATTI FRIEDRICH

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