Morgenthauröte im Luftkuhort

Karlheinz Nägele lässt seinen Blick schweifen. »Land, so weit das Auge reicht«, schwärmt der Biolandwirt aus Schmörgelheim, einem Luftkuhort in der unmittelbaren Nachbarschaft von Sindelfingen, dem Stammsitz der Mercedes-Benz Group AG. Nägele spricht immer noch vom »Daimler«, obwohl der Name längst der Vergangenheit angehört – so wie auch der Konzernstandort in Sindelfingen bald Geschichte sein könnte. Nägele umfährt auf seinem Traktor das zwei mal zwei Kilometer große Werksgelände. »Bald wird das alles mir gehören!«, sagt der Landwirt mit dem für Landwirte typischen bodenständigen Größenwahn.

Die Frage ist nicht, ob der Wirtschaftsstandort Deutschland deindustrialisiert wird, wie von Mittelstandsvereinigung und Autoindustrie befürchtet, sondern wann. Auch die Fachpresse ist sich in ihren Nachrufen einig. So ist für das Handelsblatt die »Deindustrialisierung kaum noch aufzuhalten«, während N-TV »eine gewisse Deindustrialisierung« für »unvermeidbar« hält, die Welt feierlich erklärt: »Die deutsche Deindustrialisierung hat begonnen« und das »Redaktionsnetzwerk Deutschland« ein für alle Mal klarstellt: »An der Deindustrialisierung ist nicht alles schlecht«.

Guido Sieber

Genauso wie das »Redaktionsnetzwerk« sieht das auch Nägele. In seiner Branche herrscht Goldgräberstimmung. Er ist nicht der einzige Landwirt, der seit Wochen um das Mercedes-Gelände tuckert. »Das hat was von kreisenden Aasgeiern, ich weiß«, weiß Nägele, »aber wie heißt es so schön im Kapitalismus: Fressen und gefressen werden.« Um seinen knurrenden Magen zu bändigen, beißt Nägele in eine von Dreck überzogene Steckrübe. Er liebe diesen erdigen Geschmack, sagt er und zeigt mit dem angebissenen Gemüse auf einen entgegenkommenden Traktor. »Das ist der Pfeifle Franz, der alte Leichenfledderer«, mault Nägele. Als die beiden auf einer Höhe sind, schmeißt er seine Steckrübe gegen Pfeifles Fahrerkabine und fordert den Konkurrenten auf, sich zu verziehen. »Das ist alles meins, Lumpenagrarier!«

Die Verantwortlichen der Mercedes-Benz AG hat Nägele direkt, nachdem er zum ersten Mal im Schwäbischen Bauernblatt den Begriff »Deindustrialisierung« aufschnappte, über seinen Businessplan informiert: Die eine Hälfte des vierhundert Hektar großen Werkgeländes werde er, wenn es so weit ist, in Ackerland umwandeln. »Keine Maismonokulturen«, verspricht er, »alles Fruchtfolge nach Demeter-Art.« Die andere Hälfte plant er für die Freilandhaltung seines Limpurger Rinderbestands ein und für den Auslauf seiner Lapplandziegen, Galapagoshühner und transnistrischen Wollmilchschweine. Bisher hat noch niemand aus dem Daimler-Management auf sein Angebot reagiert. »Ich werte dies als Zustimmung.«

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Denkt Nägele an das glorreiche Comeback der Landwirtschaft im Zuge des unaufhaltsamen Niedergangs der Industrie überkommen ihn die Gefühle. »Wenn das der alte Henry noch erleben dürfte«, seufzt er. Eigentlich wollte schon der ehemalige US-Finanzminister und große Humanist Henry Morgenthau der Industrie hierzulande den Garaus machen und Deutschland von seinen stinkenden Fabriken befreien. Anstelle qualmender Schlote sollten überall duftende Bauernhöfe aus den fruchtbaren Böden sprießen – mit glücklichen Kühen und willigen Mägden, oder umgekehrt. Doch daraus wurde bekanntlich nichts, weil der Rest der amerikanischen Regierung den Deutschen den Erfolg nicht gönnte. Auch die Franzosen und Briten fürchteten sich vor einer Nation von Ackerzüchtern und Viehbauern in ihrer Nachbarschaft und einem deutschen Aggro-Agrarstaat, der die Welt mit Kartoffeln, Rüben und Schweinshaxen eroberte.

Mit achtzigjähriger Verspätung wird Morgenthaus Traum nun Wirklichkeit – »und diesmal ganz ohne ausländisches Zutun«, betont Nägele. »Diese Deindustrialisierung haben wir ganz alleine geschafft und darauf können die Menschen in diesem Land stolz sein.« Wenn von der deutschen Industrie die Rede ist, denkt Nägele zuerst an Wirtschaftswunder, Exportweltmeister und Lustreisen – alles made in Germany. »Aber es gab natürlich auch dunkle Kapitel«, gibt er zu bedenken, »wie Zwangsarbeiter, Dieselaffäre und den Trigema-Affen.« Er wolle nicht missverstanden werden: »Ich habe nichts gegen Industrielle, aber ihre Zeit ist abgelaufen wie die der Dinosaurier oder von Uli Hoeneß.«

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Aus einem vorbeifahrenden Traktor fliegt eine Steckrübe, der Nägele in letzter Sekunde ausweichen kann. »Finger weg von meiner Scholle!«, brüllt der militante Mitbewerber, für den Nägele nur ein müdes Lächeln übrig hat. Siegessicher zieht er eine pissgelbe Urkunde aus der Latzhose, die belegen soll, dass das Land, auf dem Dr. Daimler und Mister Benz um 1915 ihre Autowerkstatt errichtet haben, seinen Vorfahren gehörte. »Wir sind die Ureinwohner und ich hole mir nur zurück, was uns genommen wurde.«

Kurz darauf lässt ihn ein Autohupen aufschrecken. Hinter seinem Rücken hat sich lautlos eine elektrische G-Klasse angeschlichen. Als die schwarze Fensterscheibe runterfährt, kommt dahinter das Gesicht von Ola Källenius zum Vorschein. Der freundliche Mercedes-Chef bittet Nägele, ihn auf das Werksgelände zu begleiten. Er wolle ihm zeigen, dass sein Konzern die Zeichen der Zeit erkannt habe. Als Nägele die legendäre Fertigungshalle Factory 56 betritt, traut er seinen Augen nicht. Källenius hat nicht zu viel versprochen. Wo bis vor kurzem noch in einem nutzlosen Hightech-Verfahren der Mercedes-Maybach zusammengelasert wurde, sind jetzt Sattler, Wagner und andere Zukunftsberufe eingezogen. Gebannt schaut Nägele einem Hufschmied beim Beschlagen eines Rosses zu. »Das Material für die Hufeisen stammt aus eingeschmolzenen S-Klasse-Titanfelgen«, erklärt Källenius und zeigt auf einen Kohlenmeiler, der das ausgediente KI-gesteuerte Fertigungsmodul »MO 360« ersetzt hat, das in irgendein Gewerbegebiet in Ruanda oder Sachsen entsorgt wurde.

In der Kantine nehmen sie zusammen mit einigen Jägern und Sammlern an einem Lagerfeuer Platz. Bei einem frisch erlegten transnistrischen Wollmilchschwein reden der Mercedes-Chef und der Schmörgelheimer Biolandwirt über das Geschäftliche. Details wird Nägele im Anschluss keine verraten. Aber er wirkt zufrieden, als er wieder in seinen Traktor steigt und zielsicher über die Prärie rollt – direkt in den Sindelfinger Sonnenuntergang.

FLORIAN KECH

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