Soiree der Nächstenliebe

Von FELICE VON SENKBEIL

In unserer Gemeinschaft sind wir sicher. Wahrscheinlich gab es noch nie eine Zeit, in der wir so schön unter uns waren – niemand kommt rein und wir lassen ungern einen raus, nur zum Gassigehen. Aber eines fehlt, um den Brunnen des Glückes vollends zu füllen: Wir dürfen uns einander nicht mehr umarmen, knuddeln, knuffen und die Ohrmuscheln ausschlecken – und das in einer Genossenschaft! Viele von uns wissen gar nicht, wohin mit ihrer Liebe und besinnen sich in der Not auf ihre Partner oder rütteln nachts sinnlos an den Mülltonnen.

Zeichnung Mario Lars

Aber nicht nur das Körperliche fehlt, auch das Ehrenamtliche! Keine Frühjahrsputzaktionen auf dem Hof, kein Kuchenbasar für Afghanistan, kein Kinderyogakurs und Frau Sauerbier – sie beklebt samstags die Klingelschilder mit Bibelworten – hat anscheinend auch resigniert. Unsere betagteren Genossen lehnen jede Zuwendung ab. Die einen sagen, sie hätten Honecker überlebt, da haue sie nichts mehr um, die anderen verweisen auf ihre seelischen Verwundungen durch die RAF. Sie haben sich in ihren Wohnungen verbarrikadiert und leben von den Hunderten Tütensuppen, sie sie seit der Währungsunion gehortet haben. Die Nachbarn streiten sich, wer als nächstes selbstgebackenes Brot an die Türklinken hängen darf. Manchmal werden die Almosen nachts reingeholt und die Tüten, auf denen liebe Wünsche geschrieben stehen, landen im Treppenhaus. Die Alten haben ihre Telefone stumm gestellt, weil sie die täglichen, natürlich liebgemeinten Kontrollen, ob sie noch leben, nicht mehr ertragen.

Weiter geht es im EULENSPIEGEL 05/2020

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