Mit der Würde des Stimmbelags

Frank-Walter Steinmeier ist beliebt und man kann über ihn viel Gutes sagen. Wie es sich für ein Staatsoberhaupt gehört, sind seine Schnürsenkel immer korrekt gebunden, die Haare sind sorgfältig gekämmt und auf offiziellen Empfängen schnuppert er nach frischgewaschener Unterhose. Die Menschen sind begeistert, wenn er die ehrenamtlichen Bibliotheken und in der Freizeit geführten Armenfütterungsanstalten besucht. Sie machen Selfies mit ihm und fragen in den sozialen Netzwerken, ob jemand den sympathischen Silberrücken kennt, der gerade bei ihnen im Dorf weilt. Steinmeier lächelt dann und seine Mundwinkel schnellen nach oben wie der morsche Außenrollladen, den man nach zehnjährigem Leerstand in einer Bestandsimmobilie hochzieht.


Das Ehrenamt, das liegt ihm am Herzen. Steinmeier weiß, dass es die Dörfer gibt, »in denen kein Bus mehr fährt, kein Arzt mehr praktiziert und die letzte Kneipe dicht machte.« Dort ist es wichtig, dass die Bewohner »nicht nur nach Verantwortung anderer schauen, sondern auch die eigene erkennen«, erklärte Steinmeier schon in seiner Antrittsrede für das Amt des Bundespräsidenten. Es gibt schließlich die Ortschaften, wo engagierte Menschen, ohne dafür bezahlt zu werden, ein eigenes Café oder Kino eröffnen oder wo die Karin Gehirntumore mit einem heißen Brotmesser in den Räumen des »Creativzentrums« entfernt. Ja, Fachärzte sind rar auf dem Land …

Weil Steinmeier auch irgendwie ein Ehrenamt innehat (er bekommt dafür halt nur sehr viel Geld), akzeptieren ihn die Menschen als einen der ihren. Allerdings gibt es etwas, dafür wird er von allen, die seine Bekanntschaft machten, geradezu bewundert: Mit Frank-Walter Steinmeier vergeht die Zeit nicht. Sie schleicht dahin wie der älteste Genosse des SPD-Ortsvereins Kirchmöser, den man zum 90. Geburtstag eine Flasche Eierlikör überreichen muss. Vielleicht auch deshalb waren Steinmeiers erste 100 Jahre im Schloss Bellevue ein voller Erfolg!

Das verwundert kaum. Frank-Walter ist ein Profi. Nicht erst seit seiner Amtszeit als Bundespräsident ist der ehemalige Staatssekretär, Minister und hobbymäßige Gerd-Schröder-Stimmenimitator ein gestandener Mann. Wenn man ihn sprechen hört, dann kann man den meterdicken staatstragenden Belag auf seinen Stimmbändern geradezu hinter Kaffee-Atem und einer Salamistulle riechen. Manche Sachen hat er heute nicht mehr nötig. Geräuspert hat er sich zum letzten Mal 1995 – richtig abgehustet im August 1991. Dieser Haudegen muss niemandem etwas beweisen und fühlt sich keinem verpflichtet. Keinem, der nicht Angela Merkel heißt.

Selbstsicherheit ist Steinmeiers Kapital. Er ist stets siegessicher. Denn er vertritt die helle Seite der Macht. Wo unsere Welt immer bedrohlicher und dunkler wird, ist es gut, jemanden wie ihn an unserer Seite zu wissen. Er ist ein Ritter, der gegen das Imperium der Erdoğans, Putins und Trumps dieser Welt kämpft. Er ist der einzige Sonnenschein an einem trüben Tag, der lang erwartete befreiende Pups nach schmerzhaften Blähungen.

Deutschland ist der »Anker der Hoffnung in der Welt«, sagt Steinmeier. Maritime Metaphern, das ist ein ungewöhnliches Terrain für einen Ostwestfalen! Aber das Bild stimmt. Die MS Hoffnung liegt vor der Küste und bewegt sich keinen Zentimeter, weil sie fest vertäut ist an das auf den Meeresgrund liegende Deutschland. Fische schwimmen unten vorbei. Seegras. Eine Meeresanemone. Oben ist die Pest an Bord, in den Kesseln fault das Wasser und täglich muss Steinmeier irgendeine Hand schütteln.

Ihrer Rolle in der Welt sollen sich die Deutschen endlich bewusst werden. Und gottverdammt noch mal: Sie sollen endlich den Mut aufbringen, miteinander zu sprechen! Steinmeier: »Die tägliche Selbstbestätigung unter Gleichgesinnten, die bringt uns nicht weiter. Bevor wir uns daran gewöhnen, nur noch mit denen zu reden, die gleicher Meinung sind, sage ich: Warum nicht mal mit denen sprechen, die Facebook uns nicht als Kontakt vorschlägt?« Das nimmt jeden von uns in die Pflicht! Lasst uns reden und zwar mit allen! Mit dem rechtsradikalen MMA-Kämpfer genauso wie mit der Nachbarin mit der unangenehmen Stimme, die einen darauf aufmerksam macht, dass das Auslegen von Fußabtretern laut Hausordnung verboten ist. Streit lohnt sich und stärkt die Demokratie. Warum das so ist, weiß niemand. Es ist eben ein Fakt!

Man sieht, dem Präsidenten geht es immer ums Große und Ganze. Dabei ist er sich nicht zu schade, auch die kleinen Kämpfe auszuboxen. Wer sonst hätte Özil und Gündogan so gekonnt die Kümmeltürkenohren langziehen können, als sie die Frechheit besaßen, die Deutschen mit ihrem Kanakenscheiß so schrecklich zu triggern. Wer, wenn nicht er, hätte die natürliche Autorität ausgestrahlt, die nötig ist, Martin Schulz in eine Koalition mit Angela Merkel zu treiben und dabei die SPD endlich im freiheitlichen Meer der Bedeutungslosigkeit zu versenken? Wer hätte die nötige Härte gehabt, die Standhaftigkeit, den beknackten Einfall?

Es waren damals fordernde Gespräche, zu denen der Bundespräsident die dreisten Genossen geladen hatte. Den Teilnehmern kamen sie »ewig lang« vor, wenn sie sich später daran erinnerten. Dialogfetzen dieses Ereignisses kreisen ihnen noch heute zwischen den Ohren, um ihnen den Schlaf zu rauben: »Nö!« – »Doch!« – »Nö!« – »Doch!« Martin Schulz soll am Ende geweint haben und Andrea Nahles konnte ihm nur mit Mühe die Jägermeisterflasche aus der Hand schlagen.

Wie gesagt, mit Steinmeier zu diskutieren, kann ermüdend sein. Er guckt dann gern streng, piekst mit dem Zeigewürstchen seiner rechten Hand die Designerbrille ganz hoch Richtung Nebenhöhlen auf den Nasenrücken und lüftet die Augenbrauen, bis er aussieht, als wolle er einen Uhu-Look-Alike-Wettbewerb gewinnen. In diesem Modus ist der Mann eine Allzweckwaffe und kann aus dem Stand eine seiner gefürchteten dreitägigen Tischreden halten. Oder auf eine Interviewfrage so ausschweifend antworten, dass sein Gegenüber auf der Stelle elendig an Narkolepsie verreckt.

Erdoğan soll sich eingenässt haben, als er beim Staatsbankett von Steinmeier gefühlte Ewigkeiten rundgemacht wurde. Auch weil er fürchtete, er könnte seinen Rückflug verpassen. In China haben sie gezittert, als Steinmeier die Menschenrechtslage ansprach. Was ist der kurze Schrecken eines Schusses ins Genick eines Dissidenten verglichen mit den nicht enden wollenden Qualen, die Steinmeiers Reden verursachen?

So geht Bundespräsident! Und darum glänzt Steinmeier wie kein Zweiter in seinem Amt. Zugegebenermaßen auch deswegen, weil seine direkten Vorgänger die Messlatte nicht sonderlich hoch gehängt haben. Unter den Blinden ist der Einnierige bekanntlich König. Und nur, wer mindestens eine Niere gespendet hat, darf von seinen Untertanen Mut einfordern. Frank-Walter Steinmeier könnte dazu noch viel mehr sagen.
Das können Sie glauben!

Andreas Koristka
Zeichnung: Frank Hoppmann