Der Ossi, an dem Ratten nagen

Gestern Morgen stand mir ein Mann gegenüber mit einem unerträglichen, mit einem abgrundtief hässlichen Gesicht. Was heißt Gesicht! Ich würde es eine Visage nennen, eine Fresse, eine Kloake aus Muskel, Haut und Haar. Es atmete, was ekelhaft genug war – und schwieg, indem es zu sagen schien: »Alles Scheiße!«

Peinlich berührt von so viel Hässlichkeit wandte ich den Blick ab. Aber dann – war es immer noch da? Ich musste noch einmal hinsehen. Darauf schien es nur gewartet zu haben, es sagte: »Gestern Scheiße, heute Scheiße, alles Scheiße.«

Ich tat, als hätte ich es nicht gehört und putzte ihm die Zähne.

Es braucht Disziplin und Make-up, um sich die Verbitterung nicht anmerken zu lassen.

Neuesten Bevölkerungszählungen zufolge, die das Nachrichtenmagazin Spiegel aufbereitet hat, ist dieses mein Erlebnis keineswegs ein Einzelfall. Nach der Corona-Seuche, der »German-Angst«, unter der Regierung Scholz/Habeck erfrieren zu müssen, und der aktuellen Influenza haben wir es mit einer ganz frischen Gefahr zu tun, die sich zum Ziel gesetzt zu haben scheint, den ohnehin geschwächten Volkskörper nunmehr vollends auszuhöhlen: der Verbitterung.

Und tatsächlich – die zugeschnürten Visagen begegnen einem auf Schritt und Tritt! Der Zugbegleiter heute Morgen, den ich in einer Anwandlung von kollegialem Witz ein »kleines Arschloch« nannte, hat derart verbittert reagiert, dass ich froh war, als er mich am nächsten Halt aussteigen ließ. Die Frau an der Kauflandkasse zeigte blanken Hass, als ich meinen Kleingeldbeutel auf ihr Zählbrett entleerte. Und in der Notaufnahme (Daumen, Säge) schickten sie mir gleich zwei wirklich bitter verbitterte Gestalten, als ich mich anschickte, im Warteraum die Stühle zu verrücken.

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Was ist nur aus dem einst heiteren, zu Aberwitz aufgelegten Völkchen zweier Weltkriege geworden!? Ein speziell für die wissenschaftliche Pflege des Verbitterungsphänomens an der Charité bestallter Forscher hat herausgefunden: Es reicht nicht, dass man nur einmal vom Schicksal gekränkt wird, es muss schon eine ganze Kaskade von Unbill auf einen gefallen sein (Scheidung, Verluste an der Börse, Strafzettel an der Windschutzscheibe, verschimmeltes Toastbrot gekauft), damit sich die Verbitterung zu einem Verbitterungssyndrom auswächst. Ein Syndrom ist, wenn man mit Fug und Recht sagen kann: Immer ich! Mein Leben ist eine einzige Ungerechtigkeit, und dann endet es »ausgerechnet bei mir« auch noch mit dem Tod!

Der syndromatisch Verbitterte – eine Marionette des Schicksals, der kleine, dicke, weiße Mann bei »Pink Panther«.

Die Firmen, die Gesichtscremes unter die Leute bringen, scheinen das früh erkannt zu haben, weshalb sie die Mundwinkelfalten, die dem Gesicht den Ausdruck andauernden Ekels vor der Wirklichkeit verleihen, Marionetten-Falten nennen. Diese Falten sieht man hierzulande sogar bei notorischen Humoristen wie Böhmermann oder Dieter Nuhr. Deshalb glaubt man ihnen auch kein Wort. Die Falten entlarven sie: Die sind gar nicht lustig, die machen das nur für Geld!

Marionettenfalten, die als sichtbare Spalten bei einer Holzfigur eine Bewegung des Unterkiefers ermöglichen, sind beim Menschen oft auf einen Groll gegen »die da oben« zurückzuführen.
Himmelschreiendes Unrecht: Schon 1807 hat Heinrich von Kleist in seiner Kohlhaas-Novelle die Verbitterung des Ostlers beschrieben.

Im Voralpenraum und im Rheinland sieht man die Marionettenfalten selten – und wenn, dann bei einem eingewanderten Ostler. Im Osten gibt es ein Marionettenfaltenballungssyndrom in Thüringen und rund um die Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz. Die Kränkungskaskade im Osten ist augenfällig – Mauer, Stasi, Kohl, Treuhand, Merkel und jetzt auch noch die Strangulierung unseres Ostbeauftragten – so was geht selbst an der resilientesten Seele nicht spurlos vorbei.

Viele Ostdeutsche wagen sich wegen ihrer klinisch apparenten Mundfalten bereits nicht mehr auf die Straße, vereinsamen folglich, lassen sich ihr Mittagessen liefern und sind schon wieder gekränkt, wenn es wieder nicht schmeckt: ein Teufelskreis. Der Forscher in der Charité spricht dem Spiegel gegenüber von einem »nagenden« Syndrom der tiefen Bitterkeit: der Ossi, an dem Ratten nagen! Vor heute Morgen habe ich mich gestern den ganzen Tag über gefürchtet. Würde der Gesichtseimer mit seinen abscheulichen Marionettenfalten sich abermals stumm über mich entleeren? Grienend, ja laut auflachend, platzend vor Resilienz und Lebensfreude trat ich vor den Spiegel. Und da war sie wieder, diese Visage! »Alles Scheiße«, sagte sie, und: »Leg dich besser wieder hin.«

Ich weiß nicht, warum – aber das tat ich dann auch.

MATTI FRIEDRICH

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