Das ganze Leben – nur ein Spiel

Endlich Me-Time, seufzte ich und versteckte mich hinterm Spielplatzgatter. Wenn ich die Kleine endlich von der Leine lassen kann und sie sich im Sandkasten Freunde zum Spielen sucht, genieße ich meinen selbstgekochten Kaffee-to-go, lese Bild-Zeitung und plane das Abendessen, ohne mich in die kindliche Welt einmischen zu müssen.

Sie hat ein Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden. Wenn ich mit meiner Finanzberaterin telefoniere, will ich ja auch nicht, dass sie mir reinredet und Anlagetipps gibt. Kinder machen Kindersachen und Erwachsene den Rest! Und beide machen das Beste draus.

Michi Brezel

Neulich wurde mir diese kleine Auszeit aber von einem Vollzeitvater versaut. Dieser Typ schien am Sandkasten zu wohnen. Alle fünf Minuten stieß er spitze Schreie aus, wie ich sie in meiner Kindheit im Zirkus gehört habe, wenn Pferde durch die Manege gejagt wurden.

»He, wollen wir nicht Raumschiff spielen? Ich bin der Alien und ihr müsst mich abschießen« oder »Wer will mal auf einem echten Elefanten reiten?«, brüllte er. Dann versuchte er, sich im Sandkasten einzugraben (»Ich bin ein fossiles gefährliches Ungeheuer und ihr müsst mich finden und flüchten!«).

Ich machte heimlich Fotos. Vielleicht ist der Kerl ja ein gesuchter Pädo und keins der Kinder hier ist seins – ich habe nicht eine der Rotznasen ihn »Papi« rufen hören …

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Ich warnte meine Kleine, ihr Kleidchen beim Klettern unten schön festzuhalten. »Und natürlich«, sagte ich zu ihr, »reiten wir niemals auf fremden Männern rum – und das merkst du dir auch für dein späteres Leben!«

Ich simulierte angestrengte Arbeit am Handy, immer bereit, die Polizei anzuwählen, falls der Hobby-Animateur übergrig werden sollte. Aber der brachte die Kinder zum Lachen, hielt sie in Bewegung. Selbst die adipösen Klopse, die sonst immer stumm stundenlang Sandberge ab und wieder auftrugen, begannen zu laufen, zu klettern, ja und zu lächeln! Es gab kaum noch Wutanfälle und Schmerzensschreie und es floss kein Tropfen Blut!

Gleich hat er die Schnauze voll, dachte ich, gleich kommt er angetrabt, lässt sich neben mich auf die Bank fallen und will gelobt werden. Wozu sonst der Aufwand? Ach, Männer – ihr seid durchschaut! Aber nein – der blieb dran, täuschte weder Anruf noch Herzstechen vor, um sich die Gören vom Halse zu halten.

Mit Kindern zu spielen ist anstrengend. Mich befällt dabei immer eine bleierne Müdigkeit, mir fallen die Augen zu und tausend Dinge ein, die man jetzt erledigen könnte. Und jeder Spielvorschlag ist quasi Perlen vor die Säue geworfen. Die verstehen nichts von Dramatik, Spannungsbögen, Parodien. Ironischer Subtext, neckische Anspielung, fein versteckte Kritik – vergebliche Liebesmüh.

Vor allem muss immer alles »richtig« sein. Der Wolf legt erst seine bemehlte Pfote ins Fenster, dann verstellt er die Stimme – oder war es umgekehrt? Die Jahre bis zur Aufnahme in die Grundschule sind erfüllt von Mutter-Vater-Kind Spielen. »Du bist aus Spiel die Mama und ich bin das Kind …« »Und aus Spiel gehst du jetzt erst mal Kacka machen, damit du mir nicht die ganze Bude vollfurzt«, sage ich – aber das führt prompt zu Totalverweigerung.

Im Spiel muss der/die Erwachsene jede Selbstbestimmung aufgeben, das Kind will immer »der Bestimmer sein«. Man muss vergessen, dass man ein Hochschulstudium absolviert hat, ein eigenes Konto und eine Fahrerlaubnis besitzt. Man kriecht auf dem Teppich rum, macht sich zum Affen und wünscht sich, dass das Sandmännchen ausnahmsweise früher kommt.

»Aus Spiel« bin ich oft Katzenbaby und meine Tochter ist die Tierärztin. Oder ich bin die böse Frau vom Ordnungsamt und meine Tochter die verzauberte Prinzessin im Parkverbot. »Aus Spiel bin ich noch nicht geboren …« ist momentan ihr Lieblingsspiel. Das spielen wir vor dem Einschlafen. Aber sie will dann doch geboren werden und wenn sie »jetzt!« ruft, muss ich pressen … Mehrmals in der Woche entbinden – wie eine Bienenkönigin! Eltern, die sagen, dass ihnen das Spielen mit ihren Kindern riesigen Spaß macht, lügen!

Auf dem Heimweg vom Sandkasten fragte meine Kleine, warum wir nicht so lustig zusammen spielen wie mit diesem supernetten Papa, der sich offenbar um seinen Lebensunterhalt keine Sorgen machen muss, weil seine Frau die Miete verdient. Ich wechselte das Thema und bot ihr an, einen Hund zu kaufen oder ein Frettchen.

In meiner Kindheit hätte ich nie erwartet, dass die Eltern mit mir spielen. Die mussten den Sozialismus aufbauen, und das war kein Spaß. Ich war schon froh, wenn mir mal einer die Nägel schnitt oder ein Butterbrot schmierte. Nur einmal war mein Papa mit mir am Sandkasten, als ich log, wir hätten darin eine Granate gefunden. Da hat er einen Tag lang umgegraben.

»Neueste Studien« – seit Corona ist das Lesen von »neuesten Studien« ein Massenvergnügen – belegen: Kinder, deren Eltern mit ihnen spielen, werden schlauer, selbstbewusster, umgänglicher, sind seltener drogenabhängig. Sogar die Pubertät soll bei ihnen weniger dramatisch verlaufen, wenn sie in der Kindheit ausführlich bespielt wurden. Sie lassen sich auch seltener scheiden – bei »Mutter, Vater, Kind« wurden ja alle Konflikte schon durchgespielt. Und wenn die Bindung so gut ist, erspart sie den Eltern später vielleicht das Pflegeheim.

Für Kinder im »globalen Süden« oder »in der Sub-Sahara« gilt diese Prognose wahrscheinlich nicht, denke ich. Die hocken auf einer Müllkippe und suchen in Handys und Laptops, die Europäer weggeschmissen haben, nach verwertbaren Teilen. Da spielen wohl kaum Eltern mit Kindern Klötzchenstapeln. Und die werden auch nicht alle Junkies oder brechen den Kontakt zur Familie ab, im Gegenteil.

Aber ich sehe ein, dass ich meinem Kind die besten Voraussetzungen bieten muss, um in der Leistungsgesellschaft eine Löwin und nicht das Kätzchen zu werden. Vor allem sollten Eltern immer wissen, in welcher Phase sie sich befinden, damit es nicht zu Fehlanforderungen kommt: Es beginnt mit der Ballaballa-Phase (mit der Neigung des Kindes, Plastik mit Weichmachern in den Mund zu stecken). Dann werden Tierlaute nachgeahmt. Dabei entscheidet sich schon, ob aus dem Kind eine Führungspersönlichkeit oder ein Mitläufer wird. Dann die Sandkuchenphase. Da lernt das Kind: Wer keinen Kuchen backt, kann auch keinen Kuchen essen (aber auch Mama und Papa lernen hinzu: in der Öffentlichkeit in Babysprache zu sprechen und Quietschlaute von sich zu geben). Anschließend sollte das Kind auf dem Handy Kinderschach spielen oder mit einer App Mandarin lernen.

Der vitale Typ auf dem Spielplatz hat diese Studie wahrscheinlich auch gelesen. Sein infantiles Getue – reiner Egoismus! Er will später nicht ins Pflegeheim kommen, sondern von seinen Kindern gepflegt werden. Und auch da gibt es verschiedene Phasen – es beginnt mit Volksliedersingen und endet mit Ballaballa-Spielen.

FELICE VON SENKBEIL

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