Lieder singen, Glieder schwingen
»Der Mann duscht mit einer einzigen Wasserflasche!«, rief meine kleine Tochter fasziniert und rannte auf unseren Genossenschaftshof. Mitten im Sandkasten, zwischen Klettergerüst und Raucherecke, hatte sich ein Wohnungssuchender sein Badezimmer eingerichtet. Obwohl, so wie es aussah, hatte er sein neues Zuhause bei uns gefunden.
Nackt seifte er sich ein, bespritzte die Achseln mit dem Stillen der Marke »gut & günstig« und putzte die verbliebenen Zähne mit seiner Crackpfeife. Meine Kleine war beeindruckt von dem Improvisationsgeschick des Mannes und ich bewunderte den fettfreien, zähen Körper.
Ein Fliegenschwarm tummelte sich unter der Babyrutsche. »Da ist wohl sein Klo!«, kombinierte meine Tochter blitzschnell und ich wollte nun endlich in unsere saubere Wohnung flüchten. Doch das Kind war nicht wegzukriegen von dem Nackten, und bald kamen mehr und mehr Hofkinder dazu.
Der Mann fühlte sich wohl, pfiff ein Lied und schwang sein Glied. Das war zu viel. Ich lockte die Kinder mit gelatinefreien Gummibärchen ins Haus und drehte den Schlüssel zweimal um.
So könne es nicht weitergehen, schrieb ich an die WhatsApp-Gruppe der Nachbarschaft. »Unser Hof ist doch keine öffentliche Toilette! Wir brauchen ein Tor!« Kackhaufen-Emojis, Daumen hoch, Daumen runter und Zwinker-Smilies bekam ich zurück und etliche Sprachnachrichten über Pollenallergie, Tennisarm, Chemtrails und Biobrot zum halben Preis … Alles schien wichtiger zu sein als die Sicherheit unserer Kinder. Während sich unser Spielplatz in der Drogenszene als Geheimtipp verbreitete, tat unsere Genossenschaft wie immer – nichts.
Ich musste handeln, bevor das soziale Elend unsere schöne, heile Berlin-Mitte-Welt zerstörte. Mein Mann war diesmal zum Glück auf meiner Seite und wir zimmerten in der Nacht einige Europaletten zusammen.
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Das war ein Spaß, als am Morgen die Mieter das neue Tor bewunderten. Es war uns wirklich gut gelungen; stabil, aber nicht bedrohlich, alternativ, aber nicht schmuddelig, und mit einem Zahlenschloss gesichert. Den Code, 1989, wählten wir als Hommage an unsere Gemeinschaft. Denn ohne den Mauerfall wären wir nie auf die Idee gekommen, zusammenzuwohnen. Ostberliner Familienclans, Westberliner Wehrdienstverweigerer, süddeutsche Anthroposophen, norddeutsche Aussteiger, hier kamen alle zusammen, die auf Dauer Miete sparen wollten und irgendwie einsam waren.
Eine bunte Truppe also, die sich vor dem neuen Tor versammelte.
»Was soll das?«, fragten einige. Ich erklärte die Lage, deutete auf die Babyrutsche und legte eine Kunstpause ein, um die Dankbarkeit und Anerkennung der Nachbarn genießen zu können. Immerhin hatten wir, mein Mann und ich, ganz allein die Gemeinschaft vor der Verslumung bewahrt. Doch der Beifall blieb aus. »Wir waren lang genug hinter Zäunen und Mauern eingesperrt«, brüllte ein Stasi-Opfer aus dem Seitenflügel. Der Westberliner Fahrradhändler schloss sich an. Er brauche freie Fahrt für seine tonnenschweren Lastenräder. »Aber dir wurden doch schon drei Räder geklaut«, schrie ich fassungslos.
Das sei eben auch ein Ausdruck von Freiheit, erklärte der Fahrradmillionär, sowas müsse man in Kauf nehmen in einer diversen, demokratischen, offenen Gesellschaft.
Eine Nachbarin brach in Tränen aus. Sie sei so stolz auf uns gewesen, dass wir uns nicht wie die anderen Höfe in der Gegend mit Schließanlagen und Überwachungskameras von der realen Welt abgeschottet hatten. »Wir waren offen für jeden; ein offenes Tor bedeutet ein offenes Herz und ein offenes Ohr.« Applaus ertönte und noch mehr Tränen flossen. »Ein offenes Bein bekommen unsere Kinder, wenn sie sich das versiffte Junkie-Besteck in die Knie rammen«, brüllte einer von hinten. Endlich, ein Unterstützer, Kalle, der Rollstuhlfahrer aus der Parterre-Wohnung. Ich stellte mich zu ihm. »Mädel«, sagte er leise, »det is ja schön und jut, abba det Tor muss trotzdem weg.« Er deutete auf seinen Rollstuhl und die Höhe des Tores. Außerdem müsste man seine Einkaufstaschen abstellen, um das Ding aufzumachen, das will doch keiner.
Alle waren sich plötzlich einig und mein Mann zückte schon den Akkuschrauber. Da schrie ein Kind. Es hatte die Babyrutsche benutzt.
Einige Wochen später wurde unsere neue Hoftoilette mit einem Buffett und Streichquartett eingeweiht. Sie steht direkt zwischen der Babyrutsche und dem neuen Spritzenautomaten, der Entspannungsmusik spielt, wenn frisches Spritzbesteck gezogen wird. Über den Putzplan wird bei der nächsten Genossenschaftssitzung abgestimmt. Da bin ich wahrscheinlich im Urlaub.
FELICE VON SENKBEIL
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