Heiße Redeschlachten

Am 26. Juni 1963 war es drückend heiß in Berlin. In Ganzberlin. Besonders heiß war es in der »besonderen politischen Einheit Westberlin« (Sprachregelung der Alliierten), und noch heißer auf dem Platz vor dem Schöneberger Rathaus. Dort transpirierten Zehntausende, dichtgedrängt.

Vielleicht war das aber auch nur die »gefühlte Temperatur« (diese zauberhafte Kategorie kannte die Meteorologie damals allerdings noch nicht – sie wurde von lustigen TV-»Wetterfröschen« erst Ende des 20. Jahrhunderts erfunden). Mein Onkel Jochen jedenfalls, der vor dem Rathaus dabei war, berichtete mir später, als er meine Oma in Ostberlin besuchen durfte, er habe sich für seine durchschwitzte Unterhose geschämt – alle Menschen auf dem Platz müssten nun denken, dachte er, er habe eingepinkelt. Besonders aber schämte er sich vor dem amerikanischen Präsidenten.

Jan Tomaschoff

Der stand hinter der gläsernen Tür im Balkonzimmer des Rathauses und richtete seine Korsage (das Rückenleiden!), verlangte nach Wasser, verfluchte die Russen, trat auf den Balkon, ließ die Leute eine Weile brüllen, spürte, wie auch ihm das Wasser vom Rücken in die Unterhose rann, winkte meinem Onkel (der das zeitlebens behauptete) zu und sagte: »Ich bin ein Berliner.« Vier Wörter – dreißigminütiger Jubel! Seitdem haben verschiedene Typen (Obama!) versucht, diesen Joke zu wiederholen: Es war nur peinlich.

Woran lag das? Gleich …!

Weiß jemand, wofür das Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock öffentliche Gelder verbraucht? Jetzt wissen wir’s. Die dort ansässigen Professoren und (wahrscheinlich hübschen, aber sicherlich nur »befristeten« und schlecht bezahlten) Assistentinnen haben sieben Millionen Redebeiträge aus Parlamenten in acht Ländern untersucht. Es muss ein interdisziplinäres Forschungsprojekt nie gekannten Ausmaßes gewesen sein. Sie brauchten dafür auch die Expertise von Meteorologen in aller Welt und ihre Daten aus den letzten hundert Jahren.

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Heureka! Dann hatten sie’s! Das Wissenschaftsmagazin Spektrum fasst zusammen: »Bereits ab sommerlichen 24 Grad Celsius Außentemperatur sinkt die Komplexität der politischen Ansprachen messbar. Kürzere Sätze, weniger Fremdwörter und einfache statt sperrige Substantive sind dann offenbar vermehrt zu verzeichnen.«

Weniger Wörter sind vermehrt zu verzeichnen? Egal, man weiß ja, was gemeint ist! Im Lichte dieser Erkenntnisse wird auch klar, warum Sitzungsprotokolle und Presseberichte von »hitzigen Redeschlachten« schwärmen oder fehlende Komplexität mit »der Hitze des Gefechts« entschuldigen. Legendär ist der Satz im Neuen Deutschland aus dem Katastrophenwinter in der DDR 1978: »Im Politbüro der SED ging es heiß her.«

Aber jetzt geht die Arbeit erst richtig los: Wie waren die Wetterverhältnisse bei »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche«, »Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!«, »Wollt ihr den totalen Krieg?«, »Seit fünfuhrfünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen«, »Herr Präsident, mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch«, »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten«, »… wird es uns gelingen, (den Osten) in blühende Landschaften zu verwandeln«? Wie heiß war es dem 43. Präsidenten George W. Bush, als er ausrief: »Ich denke, wir sind uns darüber einig, dass die Vergangenheit vorbei ist«? Und warum kühlte niemand den Bundespräsidenten Lübke runter, als er in Liberia sagte »Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Neger«?

Welche »Nutzanwendung« (dieses »sperrige Substantiv« gibt es wirklich!) legen die Forscher aus Rostock den Politikern nun ans heiße Herz? Ganz einfach: Gebrauche »Ich bin ein Berliner« nicht bei kühlem Nieselwetter, da wirkt es nicht! Und auch einen »Wumms« im Spätsommer, Herr Scholz, oder einen »Doppelwumms« im Frühherbst können Sie stecken lassen! Bist du kein Politiker, dann bist du fein raus. Dann brauchst du, bevor du ein Fremdwort weglässt, nicht aufs Thermometer zu schauen. »Wie findest du meinen Text?«, frage ich den Chefredakteur.

»Entscheidend ist, was hinten rauskommt«, antwortet er knapp. Zu knapp, wie ich finde: Wir haben innerredaktionell 32 Grad!

MATTI FRIEDRICH

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