Schreckliche Verbrechungen,
»Heute bin ich krank!«, rief meine Tochter jeden Wochentag, bevor sie nach ihrem Frühstück verlangte. Darauf reagierte ich natürlich nicht, schließlich ist Faulenzen und Blaumachen nur was für Bürgergeldempfänger. Wer krank ist, hat das zu beweisen. Mit Auswurf zum Beispiel, vorzuzeigen auf dem flachen Handteller.
Meine Tochter könnte das – sie ist eine begabte Spuckesammlerin. Aber noch besser kann sie gebrochene Gliedmaßen vortäuschen. Dramatisch echt lässt sie den Arm baumeln oder sie zieht das Bein nach, als wäre sie ein griechischer Straßenhund nach einem harten Tag an der Schnellstraße.
Ich fand das gar nicht lustig und zerrte ihr die Strumpfhosen über die schlaffen – weil augenscheinlich gebrochenen – Fußgelenke. Nur wenn ich etwas Empathie zeigte, fragte, wie es denn zu der »Verbrechung« (wie sie es nennt) gekommen sei, oder ob etwa eine Lähmung einsetzte, wurde das Kind langsam wieder gesund.

Der Körper und seine Verletzbarkeit schienen eine große Faszination auf mein Kind zu haben. Ich dachte schon, das sei etwas Besonderes, eine spezielle Form der Hochbegabung … Aber meine Tochter lag voll im Trend. Kinder spielen gerne krank. Sie malen sich Flecken ins Gesicht, kleben sich rosa Kaugummi aufs Auge oder schmieren sich Ketchup über die Handgelenke. Das ist mega lustig – finden sie. Gespielt wird aber nicht Verletzer, sondern Rettung anrufen, Notfallhilfe, Pflege, großes Drama!
Die Freundinnen meiner Tochter betüttelten einander im Kinderzimmer wie in einem Feldlazarett – sie hatten überlagerte Corona-Masken angelegt. Dabei stritten sie, wer am schlimmsten dran sein darf. Es wurde viel amputiert und operiert. Einmal schrie meine Tochter in die Küche: »Mama, Lappen! Blut!« Es war Kirschsaft.
Aber eigentlich wollte keine die Frau Doktor spielen. Ärzte haben einen schlechten Stand in Kinderzimmern. Am liebsten waren sie alle schwer verletzt und warteten auf Hilfe. Schließlich war dieses Lazarett völlig ohne medizinisches Personal. Sie hielten sich gegenseitig am Händchen, meist im Verband oder gelähmt, und sprachen sich Mut zu. »Das wird schon wieder, meine Kleine, und wenn nicht, werde ich immer für dich da sein.«
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Ich unterbrach das Siechtum mit einer Runde Eiscreme und tanzte zu »Let it go« ins Zimmer. Manche Mädchen ließen sich mitreißen und vergaßen kurz die offene Kopfwunde oder den gebrochenen Fuß und tanzten mit. Wenn ich dann sagte, »schön, dass ihr wieder gesund seid!«, schmiss mich meine Tochter raus – wahrscheinlich wegen mangelnden Mitleids.
In meiner Kindheit wollte ich immer die Ärztin spielen, so wie alle anderen auch. Es war schwer, Unfallopfer zu finden. Die kleinen Geschwister mussten sich Holzstäbchen in alle Öffnungen stecken lassen, heimlich die Pille von Mama schlucken und bekamen fiese Pflaster ins Gesicht geklebt. Es ging um Spannung, schnelle Hilfe und die Freude an der Spontanheilung.
Zum Geburtstag schenkten wir der Kleinen einen eigenen OP-Saal aus Vollplastik. Wir dachten, vielleicht könnte sie mit ihrer Vorliebe für Blut Chirurgin werden. Das ist ein toller Beruf, wenn man starke Venen hat und lange stehen kann. Das Kind schaute uns gelangweilt an und fragte, ob es auch Rollstühle für Kinder gäbe. »Ja«, antwortete ihr die Oma, gestützt auf ihre Gehhilfe, und brach in Tränen aus. Das Kind soll doch dankbar sein, für zwei gesunde Beine.
Meine Tochter verhandelte zäh und bekam von uns eine Rollstuhl-Barbie. Vielleicht würde das Püppchen ihre Empathie wecken. Sie würde lernen, dass Krankheit und Behinderung nichts ist, womit man spielt, sondern etwas sehr, sehr Schlimmes. Das sei Quatsch, erklärte sie, wenn man nicht damit spielen dürfe, gäbe es die Rollstuhl-Barbie ja gar nicht. Sie schmiss das arme Ding durchs Zimmer und schrie: »Ich will nicht mit einer Behinderten spielen, ich will behindert spielen!« Was soll man da sagen?

Ich offenbarte mich der KI und schrieb: »Mein Kind ist schwierig, vielleicht sogar pervers. Und die anderen Gören sind es auch.« Und nun weiß ich: »Es gibt kein ›falsches‹ Spielen – solange es nicht zu Selbstverstümmelungen führt.« Und so weit gingen die Kleinen glücklicherweise noch nicht.
Auch bei den Nachbarskindern vom Hof war Genesung nicht erwünscht. Im Gegenteil. Klackernde Geräusche (wie Nordic-Walking-Stöcke) und Kinderstimmen waren zu hören – mal kichernd, mal wimmernd. Sie riefen nach meiner Tochter, sie wollten mit ihren neuen Krücken angeben. Spielkrücken – fast wie echte, nur billiger und nicht so grau. Und die Kasse zahlt keinen Euro dazu.
Glücklich humpelten die Kinder über den Asphalt. Sie machten einen Krücken-Parcours und probierten Kunststückchen. Sowas kenne ich von der Autobahnauffahrt. An der Ampel präsentieren »Amputierte« aus Osteuropa ihre Krückenakrobatik. Sie halten Pappbecher in die Autos, die nicht schnell genug die Scheibe oben haben.
Die Versehrten-Party im Hof hielt auch die Nachbarn auf Trab. Ständig rief eine Mama aus dem Fenster, was denn um Gottes willen passiert sei! Dramatische Unfallhergänge wurden erfunden. Um dem Ganzen ein Ende zu machen, kamen die Mütter die Treppe runtergerannt, streichelten den Invaliden scheinheilig die Köpfchen und fütterten sie mit Tröste-Schokolade.
Das war also mein Leben: die pränatale Depression vor achtzehn Jahren, der Burn-out in seiner Grundschulzeit, die Putzzwangsstörung in seiner Pubertät, die Angststörung bis heute und nun auch noch dieses schreckliche Empty-Nest-Ding!

Ich wollte nicht die Spielverderberin sein und beschloss, die positiven Aspekte dieses morbiden Hobbys zu würdigen: Es regt die Phantasie an, es weckt Empathie. Und vielleicht kann meine Tochter ja eines Tages im Notfall (z.B. kein Schulabschluss) an einer Ampel Geld verdienen.
Die Spielzeugindustrie hat längst begriffen, dass mit Unfallspielzeug Geld zu machen ist. Für »verbrochene« Beine und Arme gibt es Gips-Sets in Glitzer, man kann Spiel-Prothesen kaufen, Urinbeutel-Attrappen und Mini-Infusionshalter, Armschlingen und Halskrausen. Eine komplette Unfallklinik in klein und aus Plastik, vom Weihnachtsmann. Das hat in Zeiten der Kriegstüchtigkeit auch was Gutes: Lungendurchschüsse, Splitter im Kopf? Kein Grund zur Panik für die kleinen Sanitäter!
Wir sind nun gut ausgestattet. Sogar der echte Verbandskasten wurde aufgestockt – mit Kunst-Blutreserven.
Seit einigen Tagen ist meine Tochter völlig gesundet. Allerdings erwacht sie nun mit einem langgezogenen »M-i-a-u« und schleckt dann ihr Müsli direkt aus der Schüssel. Bestimmt ist das auch eine völlig normale Phase! Ich bin gespannt, wann ich für sie ein Katzenklo kaufen soll.
FELICE VON SENKBEIL
AnzeigeAuslese
- Schreckliche Verbrechungen,
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