Rasselnder Atem, schleppende Schritte

FERNSEHEN

Ist das aufregend! Tod, Vergehen und Verderben! Jeden Abend ein neues Opfer oder knapp ein Dutzend. Mord hält uns Zuschauer bei der Stange, Gewalt ist unser Fernsehliebling. Es gibt eine Bevölkerungsgruppe, für die ist der Fernsehtod sogar existenziell wie für andere die Grundsicherung. Würde plötzlich ein Diktator (wer weiß, wie sich der Merz entwickelt) das Morden im Fernsehen verbieten – viele Menschen gerieten erst in die Obdachlosigkeit und würden dann elendig verhungern: die Drehbuchautoren.

Sie kennen nicht nur alle Arten, wie man einen Menschen telegen gewaltsam zu Tode bringen kann. Sie sind auch Spezialisten in Geografie: Sämtliche Moore, Heiden, Gebirge und Gewässer der Republik bargen schon Tote aus den Krimiserien. Besonders gern liegen die Leichen im Osten vergraben, da ist es noch so wild und unheimlich.

Oliver Ottitsch

Auch die Kommissare sind in ihrer Typologie so vielfältig wie ein vollbesetzter Berliner U-Bahnwaggon. Männlich, weiblich, divers, lustig, gestört, schwer gestört, pervers, liebesunfähig, zynisch oder zu groß, zu klein, hässlich und nicht so hässlich. Und einfach süüüß!

Ist auf diesem Gebiet noch mehr drin? Ja! True Crime heißt das neue Lieblingsformat der ARD. Das ZDF hat ja mit »XY ungelöst« schon den absoluten Nervenkick im Programm. Echte Fälle, großartig nachgespielt, mit Szenen, die man nie wieder vergisst: »Familie Müller hatte schon für den nächsten Morgen den Frühstückstisch gedeckt. Sie wollten beizeiten zu einer Wanderung aufbrechen. Aber dazu kam es nicht …« Seit dieser Szene lässt mich die Frage nicht los: Was müssen das für Leute sein, die den Frühstückstisch am Abend decken? Tragen sie durch dieses bizarre Verhalten eine Mitschuld an ihrem furchtbaren Ende?

»Crime Time – echte Kriminalfälle. Einblicke in spektakuläre Ermittlungen. True Crime auf höchstem Niveau«, verspricht die ARD.

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Und widmet die erste Folge einem Mafia-Mord in Duisburg. Schon der Vorspann ist so gruselig, dass man sich in der Toilette einschließen möchte; umgefallene Stühle, säuselnder Gesang und ein aufregender Hinweis: »Für diese Serie werden wichtige Ereignisse mit 3D-Technologie rekonstruiert.« Mit 3D! Das ist so spektakulär wie eine Leichenöffnung, bei der plötzlich der Herzschlag wieder einsetzt.

Duisburg: eine unbeliebte Stadt, eine unbelebte Bürogegend bei Nacht. Drohnenaufnahmen zeigen den Ort des Verbrechens, Betonbauten und Asphalt. Aber eben von oben – das hat man auch nicht alle Tage … Hier sind »2007 in einem Kugelhagel sechs Italiener erschossen worden«. Eines der Opfer war ein »beliebter Restaurantbesitzer, bei dem das Essen immer gut und die Stimmung fröhlich war«. Ja, verdammt, es trifft immer die Besten! Die Duisburger waren fassungslos und ahnten nicht, welch böse Mächte hier mordeten.

Ein Kriminalkommissar, der bis dahin nur tote Katzen gesehen hatte, wurde mit dem Fall betraut. Er ist eine Idealbesetzung. Auch 18 Jahre später noch zittert ihm beim Erzählen die Stimme. »Mafia kannten wir nur aus Büchern«, beklagt er sein damaliges Unwissen. Immer wieder läuft der nette Kommissar die Auffahrt vom Tatort hoch und runter. Die Kamera tastet in 3D jeden Pflasterstein ab. Nichts. Kein Blut und keine Weichteile! Doch dann, endlich, so ein Gefühl, das er in Worte zu fassen vermag: »Da steigt der Adrenalinspiegel ins Unermessliche!«

Die Ermittler in der Krise: »Wir wussten nicht, wo wir anfangen sollten. So viele Patronenhülsen hatten wir noch nie gesehen!« Das True-Crime-Team macht sich auf die Reise nach Kalabrien, in das Herz der Mafia. Warum? Weil es dort wahnsinnig gefährlich zu sein scheint. Jeden Moment können Patronen aus den Hülsen springen, das ist quasi Kriegsberichterstattung, und das lieben die Zuschauer.

Im Sonnenschein trifft das Kamerateam einen Carabiniere, der die Strandpromenade entlang spaziert und die Mädchen beäugt, denn auch Mädchen können bei der Mafia sein. Für den sind Mafiamorde so normal wie bei uns Fahrraddiebstähle oder Femizide.

Die Häuser hier sehen mafiamäßig aus, als lauere das nackte Verbrechen hinter ihren Jalousien. Die Musik verspricht einen spontanen Schusswechsel, eine Verfolgungsjagd: stattdessen Landkarten, Familienfotos und Urlaubsbilder. Da sind die Amerikaner besser dran. Die True-Crime-Formate dort können auf reichlich Bodycam-Material zurückgreifen. Und gezeigt werden darf sowieso alles. Verfolgung auf dem Highway, Schüsse, Tasern, Gewinsel vom Täter und peinliche Mugshots. Besonders unterhaltsam sind die 911-Notrufmitschnitte. Schreiende, flehende Menschen am Telefon und Polizisten, die gute Ratschläge geben. Dann Tritte, Drohgebrüll; und die Kollegen sind am Einsatzort. Der TV-Zuschauer steht
plötzlich mitten in einer Crackküche und kann den Angstschweiß der Verbrecher fast riechen.

In Duisburg hat sich ein Polizeiwachtmeister gemeldet. Der schildert noch einmal seine Eindrücke vom Tatort. »Wir kamen mit dem Streifenwagen angefahren. Dann sind wir ausgestiegen, dann hingelaufen …« Diese wichtigen Momente, das Aussteigen, das daraufhin erfolgende Hinlaufen wird dramatisch nachgezeichnet, 3D. Unter rasselnden Atem- und schleppenden Schrittgeräuschen darf der Zuschauer noch einmal die mittlerweile bekannte Auffahrt hinaufschreiten. Der Polizeibeamte hält inne. »Die Männer waren augenscheinlich tot. Haben ins zweite Auto reingeschaut. Alle tot.« Und nun sagt der Mann das, was wir wohl jetzt alle fühlen. »Es begleitet einen dann für lange Zeit. Man wacht morgens damit auf. Und man schläft damit ein«

So ist es mir tatsächlich auch ergangen.

FELICE VON SENKBEIL

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